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GEHEN IM NASSEN GRAS

Gedanken einer Anfängerin zur Fortbildung «Wo der Wind das Gras berührt – Zen und spirituelle Suche» 6.- 8. September 2025

FREITAG

Ich war zum ersten Mal im Haus Maria Lindenberg. Das Jahr zuvor konnte ich nicht an der Fortbildung teilnehmen und nun freute ich mich, diesen Ort kennenzulernen. Mir war nicht klar, dass das Haus so abgelegen vom Öffentlichen Verkehr liegt. Zum Glück durfte ich bei Urs mit dem Auto mitfahren. Wir beide hatten im November 2023 den 5. Lehrgang abgeschlossen. Die Fahrt war kurzweilig. Ankunft. Einchecken. Das Zimmer beziehen. Vertraute und unbekannte Gesichter. Weite Wege von hier nach dort. Feines Essen. Am Nebentisch immerwährend betende alte Männer. Wo geht es nur zum Vortragssaal? Francesco ohne Wisi begrüsst und richtet dessen Grüße aus. Wisi ist am Sterben (er stirbt am 7. Oktober). Wir werden ihm in dieser Runde nie mehr begegnen. Innewerden. Traurig. Sitzen. Danach gehe ich ins Zimmer. Es ist genug für heute. Ich schlafe mit Unterbrüchen gut.

SAMSTAG

Früh aufstehen. Gehmeditation draussen. Es ist kalt, die Sonnenstrahlen reichen noch nicht über den Hügel. Wir gehen nach der Einführung von Dorothea hinter dem Haus dreimal denselben Weg. Sehr langsam. Im Oval. Dazwischen zwei Textauszüge aus Gedichten:

… Die Welt ist Gottes so voll.
Aus allen Poren der Dinge
quillt er gleichsam uns entgegen.
Wir aber sind oft blind.
Wir bleiben in den schönen
und bösen Stunden hängen
und erleben sie nicht durch
bis an den Brunnenpunkt,
an dem sie aus Gott herausströmen…
Alfred Delp

Ich bin zu wenig warm angezogen. Meine Schuhe sind nicht wasserdicht. Das nasse Gras netzt meine Socken. Welche «bösen Stunden» strömen aus Gott heraus? Ja, die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren quillt ER, quillt SIE uns gleichsam entgegen. Ja. Dann kommt die Sonne in unsere stille Geh-Runde, wärmt Gesichter und Rücken. Weitergehen. Nasse Füsse. 

… bleib stets unterwegs
zwischen steinen und sternen 
solange du andern noch etwas nachträgst 
gehst du noch nicht deinen eigenen weg…
Andreas Knapp

Ich fühle mich ertappt. Ich trage jemandem etwas nach. Einer Freundin. Oder einer ehemaligen Freundin. Ein Bruch, irgendwie gekittet, doch nicht mit Gold. Die Sonnenstrahlen tun gut. Ich freue mich aufs Frühstück im Schweigen. Wie viel manche essen… Impuls 1, Pause, Impuls 2, Pause, Kontemplation, Mittagessen, zu kurze Pause, Workshop mit Gabriele Geiger-Stappel zu Chiyono.

Impuls-Stückchen
Ich höre zu und versuche zu verstehen: 
Was im Zen wichtig ist, wird uns oft nicht (nur) in Worten vermittelt, sondern in Bildern… Wo der Wind das Gras berührt… die Ruah weht wo sie will… täuschende Gefühle (Gras) sind tausende, ich gelobe sie zu lassen……Was ist das Besondere an Ch’an? Ch’an ist nicht dazu da, einen ruhigen Geist zu etablieren. Es geht um eine radikale Art der Befreiung. Das verlangt einen wilden und furchtlosen Geist… Ich denke an die Aussage der Bibel in 2 Tim 1,7 «denn Gott hat uns keineswegs einen Geist der Feigheit gegeben, sondern einen Geist der tätigen Kraft und der liebevollen Zuwendung, einen Geist, der zur Vernunft bringt.» (BIBEL in gerechter Sprache 2006) «Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.» (Luther 2017)

Ich lerne im Zusammenhang mit «Leere» ein neues Wort: «Erstehungsquellgewebe». «Alles ersteht aus ihm und fällt wieder dahin zurück» (David Hinton, China Root. Taoism, Ch’an, and Original Zen)
Wir sind schon von Anbeginn an vollkommen… wichtig ist, radikal suchend zu sein… Im Zen ist es nicht wichtig, dem Leiden zu entkommen, sondern zurückzufinden in dieses Ursprungsgewebe, in das Fliessen aller Dinge. Es reicht nicht, wenn wir nur schweigen angesichts von Leid und Unrecht. Wir sind aufgerufen inklusiv Sprache und Handlung zu finden. Es ist schwierig. Manche sagen: Wenn ich es nicht verstanden habe, ist es wirklich Zen… Nein. Das ist «Hafechäs» [Jürgen ;-)]. Wir müssen versuchen zu verstehen. 

Das Geheimnis des Zen ist das Za-Zen… Geheimnis… not knowing… now is a secret… das Geheimnis ist die Stille… was ist das Geheimnis? Geh-heim, geh dahin, wo du daheim bist, du bist das Geheimnis, deine Lebendigkeit ist das Geheimnis, Leben ist das Geheimnis… Das Geheimnis muss nicht ge- oder belüftet werden, es atmet in mir, in dir… «wer vielleicht erkennt, dass damit der Weg nicht zu Ende ist, der mag sich vielleicht hinsetzen zum Za-Zen und den Weg weitergehen, zurückgehen, nicht an den alten Ort, sondern in eine Einheit, die erst ursprünglich unbewusst war und jetzt bewusst ursprünglich ist» (Silvia Ostertag)

Za-Zen ist nicht nur ein Mittel, sondern die Erleuchtung selbst, Einheit von Zweck und Mittel, Wirkung und Ursache. Ursprung und Gegenwart sind eins. Trainingslager und Erleuchtung. 
Körperhaltung ist das Wichtigste, geerdet, gerundet auf der Erde, wir sind ein Gefäss für das Hara, aufgerichtet zwischen Mond und Erde… wobei: Geist und Körper sind fugenlos… sie schwingen miteinander… 

4 geistige Grundhaltungen: 

  • beweg dich nicht: bei Schmerzen kommt man mehr in den Selbstkontakt. Ich kann nicht weglaufen. Tanz der Unbewegtheit…
  • reagiere nicht: weite damit deine Erfahrung, so entsteht ein neuer Raum von Wahrnehmung 
  • denke nicht. Griff der Hand des Denkens lösen, immer zwischen zwei Gedanken durchgehen. Gedanken Gedanken sein lassen… Aufmerksamkeit weitet sich in ein Gewahrsein
  • korrigiere nicht: radikales Zulassen dessen, was kommt, Akzeptanz

Workshop: Chiyonos «Kein Wasser, kein Mond»
Chiyono war eine Dienerin in einem Zen-Kloster, die Zen praktizieren wollte. Eines Tages näherte sie sich einer älteren Nonne und sagte: «Ich bin von niederer Geburt. Ich kann nicht lesen und schreiben und muss immer arbeiten. Gibt es eine Möglichkeit für mich, den Weg des Buddha zu gehen, obwohl ich keinerlei Mittel habe»?
Die Nonne antwortete: «Das ist wunderbar, meine Liebe! Im Buddhismus machen wir keine Unterschiede zwischen den Menschen. Es gibt nur das – jede Person muss festhalten an dem Wunsch zu erwachen und ein Herz voller Mitgefühl entwickeln. Menschen sind so, wie sie sind, vollkommen. Wenn du dich nicht in Täuschungen verirrst, gibt es keinen Buddha und kein fühlendes Wesen; es gibt nur die eine vollkommene Natur. Wenn du deine wahre Natur kennenlernen möchtest, musst du dich der Quelle deiner täuschenden Gedanken zuwenden. Das nennen wir Zazen.»
Chiyono sagte daraufhin erfreut: «Mit dieser Praxis als meiner Gefährtin muss ich mich nur daran machen, in meinem Leben Tag und Nacht zu praktizieren.»

Nachdem sie monatelang von ganzem Herzen praktiziert hatte, ging sie in einer Vollmondnacht hinaus, um Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Der Boden ihres alten Eimers, von Bambusstricken zusammengehalten, fiel plötzlich heraus, und mit dem auslaufenden Wasser verschwand auch die Spiegelung des Mondes. Als sie das sah, erlebte sie die grosse Verwirklichung.
Ihr Erleuchtungsgedicht lautete:

Hiermit und damit versuchte ich
den Eimer zusammenzuhalten,
und dann fiel der Boden heraus.
Wo Wasser sich nicht sammelt,
verweilt der Mond nicht. 

(Auszug aus Florence Caplow, Susan Moon (Hg.), Das Verborgene Licht. 100 Geschichten erwachter Frauen aus 2500 Jahren – betrachtet von Zen-Frauen heute. Edition Steinrich 2013

automatisches Schreiben: …übeübeübeunddastutdiefraubeitagundbeinachtinihrerarbeitliebeund mitgefühlsindinihremeimerdennsiehatimüberflussdavonesistganzwunderbarundsiewirdsogarerleuchtetindemomentalsihraltereimerzerbrichtdasgegenteildessenwasmanerwartetpassiertsieerfährtdassdasaltevorbeiundzerbrochenistundsierlebtdassdermonddennochamhimmelstehtundleuchtetsieerlebtdentoddaszerbrechendasneuedasloslassenihresaltenlebensnunkannallesneuwerdenmitgefühlcompassion…

Wir schreiben, schweigen, tauschen uns aus, tasten. Leicht. Schön.
Gut geleitet und begleitet von Gabriele.

SAMSTAGABEND

Musik und Poesie mit Anita, die in Festabendkleid zwischen Worten und Instrumenten auf Berndütsch-Deutsch hin und her tanzt. Ich bin bezaubert von ihrem Spiel, ihren kleinen Gedichten oder Haikus.
Aus dem Buch “Ein Klang” von Anita Wysser (im Eigenverlag):

du hast ein purzelbäumchen
in mein herz gepflanzt
es schlägt aus

drehen im kreis
immer und immer kreisen
halt gibt die mitte

nebel lösen sich auf
tautropfen glitzern mir zu
vorüber die nacht

SONNTAGMORGEN

Früh aufstehen. Gehmeditation, wieder drei Runden, ich bin warm angezogen. Wieder nasses Gras, wieder kommt die Sonne, wärmt Rücken und Gesichter. Die Schuhe auch nass, aber weniger als gestern. Frühstück im Schweigen. Ich esse eine grosse Schale Müesli. Räume mein Zimmer. Lasse Geld liegen für die Reinigungsfrau (in Erinnerung an die unbändige Freude über ein paar Münzen, als ich im Studium selbst diese Arbeit getan habe). Feier im Vortragssaal.

Buddhistische Feier
Zwei schöne Menschen in schönen Gewändern. Schwarz. Mit Falten. Sie leiten und besingen die Feier. Wunderbares Weihrauch-Ritual. KAN JI ZAI BO SA GYO JIN HAN-NYA HA RA MI TA JI SHO KEN GO ON KAI KU DO IS-SAI KU YAKU… Gesang, Rezitation, bin angerührt, befremdet, erfreut. «Möge strahlendes Licht die Dunkelheit der Verblendung durchdringen…»

Später: Informationen, auch zu Fortbildungen – sehr reich und interessant! Wo werde ich teilnehmen?
Abschlussworte. Feines Mittagessen. Die Gruppe alter betender Männer isst auch.
Adieu sagen. Auf der Rückfahrt sind wir zu dritt im Auto.

Monika Hungerbühler, Kontemplationslehrerin via integralis

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