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Wiborada-Projekt 2021

Wiborada von St. Gallen

Von Carola Zünd, Kontemplationslehrerin vi

Die heilige Wiborada lebte und wirkte vor über tausend Jahren in St. Gallen.

Schon als Kind führte sie ein zurückgezogenes Leben. Später entzog sie sich den für Frauen damals üblichen Lebensformen der Ehe oder des Klosterlebens und entschied sich für eine radikal unabhängige Lebensform. Sie liess sich freiwillig und auf Lebzeiten als Inklusin in eine Zelle bei der Kirche St. Mangen in St. Gallen einmauern. Zwei kleine Fenster, eines nach innen und eines nach aussen, ermöglichten ihr die Verbindung zur Kirche und zur Aussenwelt. Zehn Jahre lang lebte sie in dieser Zelle, bis zu ihrem Tod im Jahr 926.

In radikaler Hingabe widmete Wiborada ihr Leben Gott und gleichzeitig den Menschen der Stadt, des Klosters und der Umgebung. Viele Menschen suchten Rat, Hilfe und Trost bei ihr. Sie war da, hörte zu, betete, gab Rat und Anweisungen, teilte ihr Essen und das Brot mit den Menschen, die zu ihr kamen.

Dank ihrer Visionen konnten die Menschen der Stadt und des Klosters rechtzeitig das Gebiet vor dem kriegerischen Einfall der Ungarn verlassen und die Klosterschätze und Handschriften aus der Stiftsbibliothek in Sicherheit bringen.

Wiborada selber weigerte sich, die Klause zu verlassen und wurde im Jahr 926 von den ungarischen Soldaten erschlagen und getötet.

Das Wiborada-Projekt 2021

Zehn Frauen und Männer lassen sich von April bis Juli in einer nachgebauten Zelle bei der Kirche St. Mangen für je eine Woche einschliessen. Sie werden jeden Tag mit Essen, Brot und frischem Wasser versorgt.

Das Innenfenster ist offen zum Kirchenraum. Schriftliche Gebetsanliegen können von der Kirche her in das Fenster gelegt werden. Das Aussenfenster führt zur Stadt. Zweimal täglich wird es für Besuchende geöffnet.

Eine Ausstellung im Kirchenraum und ein Rahmenprogramm ergänzen das Projekt.

Persönliche Erfahrung

Einige meiner Gedanken im Vorfeld

Ich freue mich darauf, eine Woche mit mir selber unterwegs zu sein, lasse mich darauf ein, mich für eine begrenzte Zeit einschliessen zu lassen. Eines ist sicher, es wir eine ganz neue Erfahrung sein, ganz anders als in den gewohnten Kontemplationswochen. Wie wird es sein, die Tage in einer Holzhütte mit dünnen Wänden mitten im Lärm der Stadt zu verbringen? Werden in der Nacht Leute vorbeikommen, möglicherweise an die Zelle klopfen? Vor dem Eingeschlossen-Sein habe ich keine Angst. Auch das Alleinsein habe ich gelernt. Ich weiss, dass ich auch in schwierigen Situationen gut bei und mit mir selber sein kann.

Respekt habe ich vor den beiden Fenstern, vor allem vor dem Aussenfenster. Wie wird das sein, wenn ich zweimal im Tag für eine Stunde das Fenster öffne, mit den Menschen rede, ihnen zuhöre, von mir erzähle? Ich weiss, dass ich dünnhäutig sein werde und verletzlich.

Während der Woche als Inklusin

Geräusche der Stadt, Motorenlärm, Stimmen von Menschen, durchlässige Wand, Kirchenglocken, voller Klang, vielstimmig, ein ganzes Konzert.

Wiborada-Brot, gesegnet, köstlicher Duft, süsser Geschmack.

Müdigkeit – ausstrecken im warmen und weichen Bett, Gedanken an zu Hause.

Eingeschlafen – wo bin ich? Ängste – wie eine Welle – wovor?

Kälte in meinem Körper, ein Stück Wiborada-Brot, ein warmer Tee, ein Schluck Wein.

Spiel auf der Metalltrommel, verschiedene Töne, lange Zeit, gerade wie sie kommen, zurückkommende Wärme im Körper.  

Abendsonne schräg in die oberen Zellenfenster, reflektierende Strahlen tanzen am geschlossenen Fensterladen an der Wand.

Dehnübungen am Morgen, im Körper ankommen, sitzen, Stille, aufstehen, das Fenster öffnen, immer wieder, Gespräche mit bekannten und unbekannten Menschen, zuhören, reden, da sein, Klänge auf der Trommel, grosse Müdigkeit und Erschöpfung, auch in den folgenden Tagen.

Am Abend Durchsicht der Gebetsanliegen aus dem Innenfenster, berührt von so viel Menschlichem, Ergriffenheit, Übergabe an das Göttliche.

Gegen Ende der Woche mehr Energie, weniger erschlagen, Vorfreude auf Spaziergänge an der Sonne in der Natur.

Gedanken im Nachgang

In dieser Woche ist mir bewusst geworden, welch unschätzbaren Dienst Wiborada durch ihr Dasein in der Eingeschlossenheit den Menschen vor Ort erwiesen hat. Sie war da, immer, in ihrer Zelle, durch das Fenster nach aussen für die Menschen erreichbar. Sie hat die Qualität der Präsenz und des Daseins in radikalster Form gelebt. Und ich spüre, dass aus diesem radikalen Dasein eine unermessliche Kraft ausstrahlt.

 

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