Skip to content

Plötzlich ernsthaft krank – Die spirituelle Dimension in der Krankheit

Winfried Semmler-Koddenbrock

Der Leib ist unverfügbar. In der Erfahrung von schwerer Krankheit wird die ganze Zumutung dieser menschlichen Grundkonstante spürbar. Winfried Semmler-Koddenbrock, Jahrgang 1956, geht dieser Zumutung und den Chancen aus seiner Erfahrung als Pastoral­referent, Krankenhaus­seelsorger und Organisationsberater i.R., Kontemplationslehrer via integralis, Mitglied in der Ökumenischen Gemeinschaft Katharina-Werk Basel, und mit langjähriger Erfahrung in der geistlichen Beratung, nach.

Wenn Menschen eine ernsthafte Krankheit bekommen, ist das oft wie ein Schock und sie stellen sich viele Fragen: Gibt es eine Heilung? Woher kommt meine Krankheit? Was kann ich von der Medizin erwarten? Was kann ich für mich selber tun? Trauer, Zorn und Zweifel sind da, Zeiten von Abwehr und Widerstand.

Auch tiefere Fragen kommen oft durch: Wer bin ich eigentlich und was macht mein Leben aus? Was soll diese Krankheit, wie geht es weiter, habe ich nicht mehr viel Zeit zum Leben? Es wird manchmal zum ersten Mal konkret bewusst, was vorher alle theoretisch wissen: irgendwann muss ich sterben. Fragen nach Sinn, nach Ausrichtung und auch danach, ob es einen tiefen Halt gibt, brechen auf.

Aus der Begleitung kranker Menschen im Krankenhaus weiß ich, dass eine Krankheit auch eine Chance ist, sich und sein Leben umfassender zu sehen und neue Wege zu beschreiten.

Wir sind Spiegelwesen

Wer bin ich eigentlich?

Wer sind wir? Wenn ich (schwer) krank bin, sind mir Aktivitäten und Leistung und die daraus folgenden Bestätigungen durch andere im alltäglichen Leben erst einmal weitgehend genommen. Wer bin ich dann noch? Hildegard von Bingen “sieht” den Menschen in einer Vision als Spiegelwesen Gottes: “Ich habe zur Anschauung meines Antlitzes Spiegel geschaffen, in denen Ich alle Wunder meiner Ursprünglichkeit, die nimmermehr aufhören, betrachte” (4. Schau ihrer Kosmos-Schrift). Wir Menschen spiegeln Gott und wir spiegeln einander. Paulus schreibt in 2 Kor 3,18 (in der Übersetzung meiner Jerusalemer Studienbibel): “Wir alle aber, die wir mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn widerspiegeln, werden in das gleiche Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn aus geschieht, welcher Geist ist.” Gott zeigt sich auch durch jeden Menschen und durch mich. Wir spiegeln das Göttliche, ich als Mensch und Person spiegle das göttliche Du, die große Liebe. Diese Verwandlung, von der Paulus spricht, dass wir Gott immer ähnlicher werden, geschieht von Gott her – wenn wir es zulassen (siehe Eberhard Nestle, Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament, bearbeitet von Fritz Rienecker, Gießen, 14. Auflage 1974, 405). Könnte es sein, dass auch meine Krankheit ein Stück dieser Umwandlung ist? Ein gewagter Gedanke.

Der große Leib

Zugleich bedeutet dieses Spiegeln auch: Es gibt keine getrennte Existenz, nur das eine große Gewebe des Lebens und des Kosmos, in dem jede und jeder einzelne von uns ein Knoten ist. Die Mystiker und die Physiker sagen uns, dass das so ist. Albert Einstein: “Der Mensch ist ein Teil des Ganzen, das wir Universum nennen … Er erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle als getrennt von allem anderen – eine optische Täuschung des Bewusstseins” (in: Wie Zen mein Christsein verändert, hg. von Michael Seitlinger und Jutta Höcht-Stöhr, Freiburg 2004, S. 168).

Das heißt nun auch, dass die Welt auf uns und unseren Körper wirkt: die nahe Umwelt und die weite Welt, das Positive und Schöne wie auch das Belastende in der Welt. Der Egoismus, der Kapitalismus, alle geistigen und materiellen Strömungen wirken auf uns. Die wirtschaftlichen und militärischen Kriege in der Welt wirken auf mich und meine Umwelt. Jede liebevolle Begegnung, jede großherzige Haltung anderer, jedes positive Vorbild, jeder inspirierende Mensch wirkt auf mich. Die Welt unseres blauen Planeten und der ganze Kosmos wohnen in mir, ich kann mich dem nicht entziehen. Heinrich Seuse: “Ein gelassener Mensch sollte alle seine Seelenkräfte so zähmen, dass, wenn er in sich hineinschaut, sich ihm da das All zeigt” (in, Der Weg der Meister 1, hg. von P. Ermin Döll, Eigenverlag Dietfurt, 21988, S. 209).
Wir sind ein Leib und ich bin eine Zelle darin (vgl. Eph 4,13-16). Die Seele-Geist-Körper-Welt-Gott-Einheit ist der große Leib, und das ist auch mein Leib, nicht nur mein hautverkapseltes Ich. In der Meditation können wir das erfahren, dass ich eins bin mit allem. Ich bin keine abgetrennte Insel in der Welt und gleichzeitig bin ich doch ein einmaliger Knoten im großen Gewebe dieser Welt. Es geht darum, dass ich meinen konkreten Körper bewohne, so wie er ist. Auch in Zeiten der Krankheit. Je mehr ich mit meinem Körper in Kontakt und in Resonanz bin, desto mehr komme ich auch in dem großen Menschheitskörper in Resonanz.

Kommuniziere mit deinen Organen

Pia Gyger, meine langjährige geistliche Lehrerin und Zen-Meisterin schrieb:
“Kommuniziere mit Deinen Organen und wisse, Du kommunizierst mit dem ewigen Wort, das in jeder Zelle Deines Körpers west.
Erkenne MEIN Wirken im Drängen Deines Körpers, sich neu auszurichten.
Sprich an MEINE Gegenwart in Deinen Zellen und befiehl in MEINEM Namen ihr Erwachen.
In Freude und Leichtigkeit werdet Ihr ausrichten Eure Kräfte, hörend auf die Weisung Eurer Organe, die schwingen im Licht des Auferstandenen.
Lerne den neuen Atem.
Atme ein das alles Dunkel wandelnde Licht des Auferstandenen.”

(Pia Gyger, Maria. Tochter der Erde, Königin des Alls, München 2002, S. 19)
Gott ist in jeder meiner Zellen gegenwärtig. Er ist da!

Die Quelle in uns entdecken

In der Stille und in der Hingabe im Alltag kann ich die Quelle entdecken, aus der ich lebe, und etwas von der Einheit von allem zuerst erahnen und dann erfahren. Angelus Silesius dichtet: „Wie töricht tut der Mann, der aus der Pfütze trinkt und die Fontaine lässt, die ihm im Haus entspringt.“ Ich bin eins mit Gott, der Quelle allen Lebens. Gott wohnt in mir und ich wohne in Ihm. In Ihm bin ich geborgen und unendlich geliebt. Der Urgrund, aus dem wir leben, ist zugleich der oder die Ganz-Andere und das Geheimnis unseres Lebens. Die Sehnsucht wird uns leiten. In Jesus Christus hat Er uns sein Angesicht gezeigt, hat er uns vorgelebt, wie diese Liebe ist – berührbar, erfahrbar, nahbar. Und in jeder und jedem von uns zeigt Er sich.

In Resonanz leben

Hartmut Rosa hat die Bedeutung der Resonanz betont (Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016). Wir können das in vielerlei Hinsicht aufgreifen: Wie kann ich in Resonanz mit dem Unbekannten, den wir Gott nennen, leben? Wie in Resonanz zu meinen tiefen Impulsen? Wie kann ich meine inneren Impulse überhaupt wahrnehmen und ernst nehmen? Und wie kann ich in Resonanz mit meinem Körper leben? Vielleicht spiegelt mir auch meine Krankheit etwas über mein Leben oder meinen Körper, so dass ich mich tiefer verstehen könnte.

Beziehung zur Umwelt

Wie lebe ich die Beziehung zu mir und zu meiner Umwelt (und zur großen Welt) so, dass ich zu mir und zugleich zur Welt finde? Oder anders formuliert: Ich möchte nicht mich verlieren, mich nicht zu sehr an andere oder an äußere Erwartungen anpassen, vielleicht nicht mal an meine eigenen Erwartungen. Und zugleich möchte ich mich nicht abkapseln von meiner Umwelt. Wie finde ich eine Resonanz, die mir und der Welt gut tut? In der ich immer mehr den Impulsen aus meiner Tiefe folge, mutig bin, Dinge beim Namen nenne – und zugleich von Herz zu Herz verbunden bin.

Wie kann ich mich schützen vor Einflüssen, die mir nicht gut tun? Es ist v.a. das Maß an Impulsen von außen, die wir besser dosieren, um uns nicht zu überfordern. Es ist unsere Aufgabe, in Balance zu kommen, zwischen Geben und Nehmen, zwischen Kontakten mit anderen und Zeiten für mich. … Aber wir können uns nicht grundsätzlich aus der Energie der Welt zurückziehen, Augen, Ohren, Hände und v.a. das Herz schließen. Uns nach außen zu verschließen, macht uns auch krank. Denn in unserem Herzen schlägt auch das Herz der Welt.

Zu mir finden

Die Krankheit ist eine Einladung, mich mir zuzuwenden und die tiefen, leisen Signale meiner Seele wahrzunehmen und auf sie zu achten. Viele Menschen leben zu einseitig:

  • Zu viel Verpflichtung und Einsatz für andere (oder zu wenig)
  • Zu viel Arbeit
  • Zu viel Festhalten an Erwartungen, an Besitz, …
  • Zu wenig Bewegung und Natur

„Wir sind psychologisch am besten reguliert, wenn wir uns geliebt, verbunden und wertgeschätzt fühlen und wenn wir selber lieben, statt indifferent oder mürrisch oder hasserfüllt zu sein.“ (Diego Hangartner, Vortrag “Warum Empathie nicht Mitgefühl ist” bei der Lehrer*innen-Fortbildung der Kontemplationsschule via integralis am 03.09.2016)

Das große Ja leben

Eine Krankheit ist eine Einladung, mich dem Fluss meines Lebens hinzugeben, der tiefer ist und oft anders fließt als meine Pläne und mein Wollen. Manchmal durchkreuzt das Leben meine Pläne und mein Wollen. Stelle ich mich meinem Leben? Wir sind durch jede Situation im Leben eingeladen und oft herausgefordert, das große Ja zu leben. Im Lied auf Zazen von Hakuin Zenji heißt es: “Dieser Leib das Leben des Buddha.” Wenn wir mit der Tiefe unseres Lebensstromes in Resonanz kommen, finden wir darin oft unser Glück. In meiner Erfahrung kann ich sagen: Ich bin Gottes große Liebe. Kann ich mich öffnen für diese große Liebe, sie selber werden und – oft ohne Worte – von ihr Zeugnis geben?

Was kann ich konkret tun?

Auf das Positive schauen

Mit unserem Kopf und Bewusstsein schaffen wir einen ganzen Teil unserer Welt – und den anderen Teil beeinflussen wir damit. Ein und dasselbe Ereignis kann von unterschiedlichen Personen ganz unterschiedlich erlebt, rezipiert und verarbeitet werden. In schwierigen Lagen sich hadern und zweifeln zu erlauben, kann befreiend sein. Nur wenn ich darin hänge bleibe, verbaue ich mir selbst meinen Weg. So erlebe ich im Krankenhaus Patienten, die sind auf das Klagen ausgerichtet. Andererseits erlebe ich Patienten, die sehen in all den Grenzen doch noch das Positive. Letztere leben oft auch mehr aus der Hoffnung, worauf auch immer sich diese jeweils bezieht. Manche habe diese Haltung schon von früh auf wie geschenkt bekommen, viele andere haben sie sich im Lauf des Lebens (hart) erarbeitet.

In Kopf und Herz sähen wir mit unseren Gedanken, Einstellungen und Blickwinkeln die Samen, die in unserem Alltag als Früchte aufgehen. Säe ich Selbstmitleid, Benachteiligung und Missgunst – oder säe ich Selbstannahme, Dankbarkeit und Vertrauen? In einem Text einer jüdischen Gruppe etwa aus der Zeit Jesu heißt es „Mein Herz ist ein Garten, genannt Eden. Mein Garten ist fruchtbar und schöpferisch. Wie der Urgarten Eden kann er ein Segen oder ein Fluch sein. Der Meister hat gesagt: ‚Wie der Mensch in seinem innersten Herzen denkt, so ist er.‘ Von heute an beginne ich ein neues Leben. Ich pflanze einen neuen Garten und ernte neue Gedanken und Überzeugungen. Ich bin der Meistergärtner meines Lebens, Wie ich mich jeden Tag fühle, wird das Resultat dessen sein, was ich zu mir selber sage und was ich immerwieder zu mir gesagt habe“ (gekürzter Text aus einer Schriftrolle, die in einer Felsspalte am Toten Meer gefunden wurde).

Meditation

Meditieren hilft. Wer es nicht kennt, kann es lernen (im Internet unter Zen oder Kontemplation suchen). Besser ist, klein anzufangen. 10, 15 Minuten am Tag, möglichst regelmäßig, dann wirkt es: aufrecht sitzen (notfalls im Bett liegend, wenn es nicht anders geht), mit (leicht) offenen Augen, auf den Atem achten, eins werden mit dem Atem. Alle Gedanken und Gefühle, die aufsteigen, dürfen sein. Wir nehmen sie wahr, aber wir verfolgen sie möglichst nicht, sondern kehren immer wieder zum Atem zurück. Und wenn wir lange geträumt oder in den Assoziationsketten versunken sind – sobald wir es merken: nicht ärgern, sondern einfach wieder zurück zum Atem gehen.

Und für wen die gestaltlose Meditation nicht passt, für den sind regelmäßige Zeiten der Stille auch ein Weg. Ich habe das als 17-Jähriger begonnen, nach meinem ersten Aufenthalt in Taizé. Das hat mir sehr gut getan. Die Wirkungen von Zen oder Kontemplation jedoch gehen noch deutlich tiefer, das kann ich aus eigener Erfahrung und aus der Begleitung anderer Menschen sagen. Regelmäßige Meditation ist ein Beitrag zur psychischen und körperlichen Gesundheit, gibt neue Kräfte, stärkt die Intuition und fördert Selbsterkenntnis und Selbstannahme.

Spiritualität und spirituelle Begleitung

Spirituelle Begleitung durch eine erfahrene geistliche Begleiter:in oder eine Kontemplationslehrer:in ist immer sinnvoll. Manchmal geht die spirituelle Dimension tiefer als die psychologische und die medizinische. Ein spiritueller Weg ersetzt grundsätzlich keine schulmedizinische Behandlung. Ein spiritueller Weg ergänzt und unterstützt die normale Medizin und kann dann durchaus viel bewirken. Spiritualität stärkt die Resonanz in der „vertikalen Resonanzachse“, wie Hartmut Rosa das nennt.

Der Trappist Thomas Merton formuliert das so: „Im innersten Kern unseres Wesens gibt es einen Punkt, klein wie ein Nichts, an dem Sünde und Illusion nicht zu rühren vermögen. Es ist ein Punkt der lauteren Wahrheit, ein Punkt oder Funke, der ganz Gott gehört. Nie können wir über diesen Punkt verfügen, sondern Gott fügt von diesem Punkt aus unser Leben. Er lässt sich nicht von Phantasien unseres eigenen Geistes erreichen, er lässt sich nicht mit gewalttätigem eigenen Wollen erobern. Dieser kleine Punkt der Nichts-heit und der absoluten Armut ist der Punkt der reinen Herrlichkeit Gottes in uns.“ Gott fügt von diesem Punkt aus unser Leben! Wir dürfen Vertrauen und uns anvertrauen. Eine Begleitung hilft, das zu entdecken und sich dem zu überlassen.

Die Erwartungen loslassen

Nichts Bestimmtes erwarten. Auch die Erwartung loslassen, dass ich geheilt werde. Es ist besser, daran nicht anzuhaften. Das Leben ist ein Abenteuer, der Ausgang ist offen. Mit dem Wunder kann nicht gerechnet werden, auch wenn es nicht ausgeschlossen ist.

Frieden und Versöhnung als Arbeit und als Geschenk

Das, was wir erwarten können, hat viel mit dem biblischen Begriff „Schalom“ zu tun. Dieser wird gewöhnlich mit „Frieden“ übersetzt. „Das hebräische Wort ‚schalom‘ bedeutet ursprünglich ‚heil, unversehrt, gesund, geordnet, glücklich sein‘. … Schalom meint die psycho-physische Harmonie des Menschen, sein Wohlbefinden“ (Praktisches Bibellexikon, Freiburg 1969, S. 345). Schalom-Heil-Heilung ist umfassender als eine körperliche Heilung. Gott will, dass wir auf unserem Weg immer heiler werden trotz und mit Krankheit. Das hat viel mit Frieden mit mir und meinem Schicksal zu tun.

Oft ist dazu Versöhnungsarbeit und Ausrichtung nötig. Aus spiritueller Sicht ist gerade eine Krankheit eine Einladung, mich mit meinem Körper und mit meiner Geschichte (auch Familiengeschichte!) zu versöhnen und Frieden zu finden. Es hat mit dem Nach-Hause-Kommen in dieses mein reales Leben zu tun. Welche Lebenswünsche sperren sich gegen Versöhnung? Wo will ich etwas, was nicht gut ist für mich – oder wo will ich zu viel? Wo gibt es Beziehungen, die mich belasten oder frustrieren? Und was kann ich dafür tun, dass sich da etwas ändert? Zu wem muss ich vielleicht auch mehr Abstand einnehmen – und zu wem mehr Nähe und Offenheit wagen? Das sind nur wenige Fragen von vielen möglichen, die bei so einer inneren und äußeren Arbeit anstehen könnten. Oft geht das nur in kleinen Schritten. Und jeder Schritt ist ein Schritt mehr zu mir. Das Unterwegssein ist wichtig, das Ankommen geschieht letztlich sowieso immer im Jetzt. Und in diesem Ankommen im Jetzt liegt etwas von diesem Heilen und dem Frieden. Auch das Leben mit Krankheit kann erfülltes Leben sein.

Ich schließe mit dem Gedicht von Hilde Domin:

Bitte

Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,
wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut.

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränen
taugt nicht,
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht.

Es taugt die Bitte,
dass bei Sonnenaufgang die Taube,
den Zweig vom Ölberg bringe.
Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden.

Und dass wir aus der Flut,
dass wir aus der Löwengrube
und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.


Der Beitrag ist erstmals erschienen in:
inspiration. Zeitschrift für christliche Spiritualität und Lebensgestaltung. Ausgabe 4/2021, S. 10-17
Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Echter Verlag, Würzburg





Leave a Reply