Jesuit und Zen-Meister, Südkorea
Das Interview führte Ursula Klumpp anlässlich ihrer Teilnahme an der Schweigeretraite vom 4.-9. März 2024 in Estavayer-le-Lac bei Bernard Senécal.
Sie hat im November 2023 den Lehrgang zur Kontemplationslehrerin via integralis abgeschlossen.
Vielen Dank, liebe Ursula, für die Horizonterweiterung für die via integralis durch ein weiteres Beispiel gegenseitiger Befruchtung von Buddhismus und Christentum in der Person von Bernard Senécal.
Link zum Original-Interview auf französisch
Ursula Klumpp: Wir kennen uns seit 2015, seit ich an deinen «retraites zen et évangile» teilnahm, die du in Québec anbotest, wo ich fünfzehn Jahre gelebt hatte. Seither bist du mein Begleiter auf meinem spirituellen Weg. Seit Jahren bietest du auch in Frankreich und in der Schweiz Schweigeretraiten an zum Thema Zen und Bibel.
Erzähle uns bitte die grossen Linien deines Lebenslaufes.
Bernard Senécal SJ: Ich bin 1953 in Montréal (Québec) in einer katholischen Familie geboren und aufgewachsen. Meine Mutter, eine ausserordentliche Frau, wollte unbedingt, dass ich Arzt werde, und meine Eltern schickten mich nach Bordeaux, wo mein Pate lebte, um Medizin zu studieren. Ich wurde in Québec in keiner Fakultät angenommen. Ich war nicht motiviert, da ich meine Freundin in Montréal zurückgelassen hatte und nur an sie dachte. Unser brieflicher Kontakt war für mich vom Inhalt her sehr verwirrend – mit der Konsequenz, dass ich mich nicht auf das Studium konzentrieren konnte und mein erstes Studienjahr nicht bestand. Bei meiner Rückkehr nach Montréal erlebte ich eine sehr schmerzhafte Trennung von meiner Freundin, die, wie ich befürchtet hatte, jemand anderen kennen gelernt hatte. Nach den Sommerferien flog ich wieder nach Bordeaux, wo ich das erste Jahr bestand, und danach vier Jahre Medizin studierte.
Trotzdem war ich tief in mir nicht glücklich, ich suchte nach etwas anderem. Während diesen Studienjahren entdeckte ich das spirituelle Leben. Die regelmässige Übung der Meditation führte mich zuerst in eine tiefe existentielle Krise, und danach in eine «retraite de choix de vie», eine Entscheidungsretraite. In dieser Retraite entschied ich mich, das Medizinstudium aufzugeben und in den Jesuitenorden in Lyon in Frankreich einzutreten.
Bereits bei meinem Eintritt ins Noviziat 1979 fragte mich der Provinzial, ob ich nach China, in ein muslimisches Land oder in die UDSSR gehen wolle. Ich antwortete ihm, ich wäre glücklich dorthin zu gehen, wohin man mich schicken werde. Zwei Jahre später, als er mir vorschlug nach Südkorea zu gehen, verlangte ich zuerst eine Landkarte, da ich nicht wusste, wo dieses Land war. Als ich sah, dass es ein zweigeteiltes Land war, umgeben von China, Russland und Japan, wo etwa 30’000 amerikanische Soldaten stationiert waren, empfand ich eine mysteriöse Art von Verliebtheit, und ich nahm diese Herausforderung an. Eine Entscheidung, die ich nie bereut habe.
1985 kam ich in Südkorea an und wohnte im Orden der jungen koreanischen Jesuiten. In den zwei darauf folgenden Jahrzehnten studierte ich zuerst die koreanische Sprache. Dann, tief verwundert über den religiösen Pluralismus in Südkorea, begann ich die dort existierenden Religionen zu studieren: Schamanismus, Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Es gibt 27% Christen, davon 7% Katholiken und 20% Protestanten. 1992 wurde ich als Priester ordiniert.
Ermutigt vom Verantwortlichen der Jesuiten in Südkorea habe ich das Studium des Buddhismus vertieft. 2004 schloss ich mit dem Doktortitel ab. Von 2004 bis 2015 unterrichtete ich Buddhismus an der Universität in Seoul als Titularprofessor. Parallel dazu wurde ich von einem einheimischen Zen-Meister in die Praxis des Zen eingeführt, das in Südkorea «Seon» genannt wird. Nach 25 Jahren Koan-Schulung wurde ich 2021 zum Zen-Meister ernannt. Seit 1991 biete ich Schweige-Retraiten an, um den Zen-Geist und die Ignatianischen Exerzitien zu integrieren.
Da ich meinen Platz in der jesuitischen Gemeinschaft in Seoul, die sich nicht für den interreligiösen Dialog interessierte, nicht fand, gründete ich 2015 mit einer Gruppe von Menschen mit derselben Offenheit eine Vereinigung. Diese Vereinigung heisst: «The Way’s End Stone Field Community» (Das steinige Feld am Ende des Weges). Drei Pfeiler charakterisieren unsere Gemeinschaft, doch davon später.
Ursula: Erzähle uns von dir, diesem Mann auf der Grenze – «homme frontière»: Du hast auf drei Kontinenten gelebt (Nordamerika, Europa, Asien), bist christlicher Priester und buddhistischer Zen-Meister und sprichst mehrere Sprachen. Wie prägten dich diese verschiedenen Erfahrungen?
Bernard: Ich verstand, dass ich ein Frosch auf dem Grunde eines Brunnens bin, dass ich dies immer sein werde, auch wenn ich grösser werde. Dadurch lernte ich das Leben und die Erfahrungen, mit denen wir konfrontiert sind, aus verschiedenen Blickwinkeln heraus zu betrachten. Unsere Vorstellung der Realität ist immer begrenzt. Gleichzeitig sehnen wir uns nach etwas unendlichem, das grösser ist als wir. Das Ziel aller Mystiker der grossen Religionen ist die Vereinigung des Menschen und des Universums in Gott. Ich bin römisch-katholisch geboren, in Frankreich habe ich den Protestantismus, Atheismus und die Ökumene kennen gelernt, in Korea entdeckte ich den religiösen Pluralismus, andere Religionen in der Welt. Als ich klein war, lernte ich, Französisch sei die schönste Sprache und am schwierigsten zu erlernen. Obwohl es nicht einfach ist, sich dem Ethnozentrismus zu entziehen, ist es möglich zu lernen, die Welt so zu betrachten, dass man sich nicht in deren Zentrum sieht. Damit Französisch meine Muttersprache ist, muss sie nicht die schönste sein, und nicht am schwierigsten zu lernen. Es genügt einfach, dass es die Sprache meiner Mutter war, als sie noch lebte.
Die Begegnung der anderen Religionen auf intellektueller, praktischer und sozialer Ebene, im Speziellen des Buddhismus, hat mich zu meiner religiösen Muttersprache zurückgeführt, zur christlichen Tradition. Korea hat eine mindestens 1700-jährige buddhistische Tradition. Man nimmt dessen Präsenz überall wahr. In der Begegnung mit Buddhisten realisierte ich, dass sie sehr gut leben ohne Jesus Christus, dass ihnen Jesus, in dem ich lebe, nicht fehlte. Das hat mich sehr verwundert.
Ich habe Englisch in Kanada gelernt, weil dies ein Land ist, wo Französisch und Englisch gesprochen wird. In Korea lernte ich koreanisch. Ich habe die kanadische, französische und koreanische Staatsbürgerschaft, aber meine Muttersprache bleibt Französisch. Ich habe mich in Buddhismus spezialisiert, ich bin begeistert vom Buddhismus, ich liebe ihn, aber meine religiöse Muttersprache bleibt auf Jesus Christus zentriert. Der wichtigste Punkt ist, dass ich nach etwa zwanzig Jahren der spirituellen und intellektuellen Verwirrung, hin- und hergerissen zwischen Buddhismus und Christentum, mit gestärkten Wurzeln daraus hervorgegangen bin.
Wenn ich die aktuelle Weltlage betrachte: wir sind in einer total chaotischen Situation auf ökologischer und geopolitischer Ebene, auch was die Zukunft der Weltordnung anbelangt, die nach dem zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Um die Orientierung nicht zu verlieren, brauche ich einen Kompass. Die religiöse Orientierung ist mir im christlichen Glauben gegeben, durch Christus. Ich betone, dass vor allem die Person Jesus Christus den Schwerpunkt meiner gesamten Existenz ausmacht. Und dank des Buddhismus habe ich ihn wiederentdeckt.
Ursula: Du bist Christ, bist als Christ aufgewachsen. Warst du denn im christlichen Glauben verunsichert, dass du Buddhismus studiert hast?
Bernard: Zu Beginn motivierte mich weniger die Verunsicherung, sondern der unwiderstehliche Wunsch, diese mir unbekannte Welt des Buddhismus kennenzulernen. Es gab eine Zeit in meinem Leben, nachdem ich intensiv die Vipassana-Meditation in Indien praktiziert hatte (1990) unter der Anleitung des Meisters S. N. Goenka (1924-2013), in der ich glaubte, der Buddhismus könne mir etwas Grösseres bieten als die christliche Tradition. Damals dachte ich, Zen-Mönch zu werden. In dieser Zeit war Christus total abwesend in meinem Leben. Ich hatte tiefgehende Zweifel in Bezug auf seine Existenz und suchte Hilfe bei einem Jesuiten, da ich nicht verstand, was mit mir geschah. Er sagte mir, ich sei in einer tiefen christologischen Krise. Ich befürchtete, ich könne nicht mehr ordinierter Priester sein, ohne an Christus zu glauben.
Der Dialog mit dem Buddhismus führt mich weg von der Unterscheidung in «besser» oder «schlechter». Jetzt weiss ich, dass man nicht der Beste zu sein hat, um glücklich und in Frieden zu sein. Christus hat nicht der Beste zu sein für alle, obwohl er sich an alle wendet. Es genügt, wenn er es für mich ist, für diejenigen, die an ihn glauben. Es war ein grosser Schock zu realisieren, dass er, der in mir lebt, für die Menschen in Korea keine Bedeutung hat. Ich konnte ihnen davon erzählen, aber es interessierte sie nicht. Sie lebten ihre religiöse Tradition, ohne dass ihnen etwas fehlte. Ich verstehe heute, dass der Buddhismus für sie das Beste ist. Ich versuche nicht, meinen buddhistischen Meister zu bekehren, er versucht nicht, mich zu bekehren. Wir respektieren uns.
Etwas finde ich nicht im Buddhismus, obwohl ich ihn liebe und bewundere, ihn unterrichte. Die Buddhisten fragen mich: «Warum wirst Du nicht Buddhist? Du kennst den Buddhismus besser als wir, warum lässt Du Christus nicht sein?» Ohne Christus fühle ich mich verloren in der Welt, auf der sozialen, kosmischen und geopolitischen Ebene. Mit Ihm bekommt alles Sinn. Ohne Ihn habe ich den Eindruck, wir seien zur Zeit Noahs oder des Turmbaus zu Babel, dass unsere Zivilisation in einer tiefen und hoffnungslosen Krise steckt, am Zusammenbrechen ist. Die Beziehung zu Jesus Christus gibt meinem Leben etwas, das mir der Buddhismus nicht geben kann. Mit Christus kann geschehen, was will, ich glaube an das Leben, an das Licht, an die Ewigkeit. Der Glauben an Jesus Christus gibt mir die notwendige Hoffnung, die Welt zu betrachten ohne zu verzweifeln.
Ursula: Seit 2014 bist du Leiter einer interreligiösen und internationalen Gemeinschaft. Du hast sie mit anderen Menschen zusammen aufgebaut. Du lebst und arbeitest dort. Was lehrt dich die Arbeit mit den Händen in der Erde? Was kannst du von dem, was du studiert hast, hier umsetzen?
Bernard: Anfangs gab es sehr starke Widerstände von meinem jesuitischen Orden her gegen dieses Projekt. Der Provinzial sagte, typisch für einen Asiaten: «Ich unterstütze und ermutige Dich, aber ich kann Dir die Erlaubnis nicht geben, Du musst in Rom fragen». In Rom bekam ich zur Antwort, das müsse in Korea entschieden werden. Es war wie ein Ping-Pong-Spiel, ich schaute dem Ball zu. Dann kam ein wundervolles Ereignis. Papst Franziskus besuchte 2014 Korea. Sein Übersetzer, der einige Wochen nach diesem Besuch mein Vorgesetzter wurde, erzählte ihm vom Bericht, den ich nach Rom geschickt hatte, um eine neue Gemeinschaft zu gründen. Der Papst sagte ganz einfach: «Solche Projekte sind unsere Zukunft!» Von da an ging alles reibungslos.
Was habe ich gelernt? Wenn man in einen religiösen Orden eintritt, wird für alles gesorgt – Wohnen, Essen, Kleidung, Studium. Man braucht sich um das Materielle keine Sorgen zu machen. Im «Unser Vater» sagen wir: «Unser täglich Brot gib uns heute.» Das ist der Geist, in dem Jesus von Nazareth lebte. Er war vollkommen von seinem Vater abhängig wie ein Kind, das alles von seinem Vater erwartet. Gleichzeitig und paradoxerweise war er von einer ausserordentlichen menschlichen, psychologischen und spirituellen Reife. Er war erwachsen, vollkommen erwachsen. Ich habe also gelernt zu leben, ohne vom religiösen Orden, zu dem ich gehöre, abhängig zu sein. Diese Situation zwingt mich, tiefer in eine Beziehung zu Christus, zu Gott im Heiligen Geist zu treten. Ich lerne, nur noch diesen einen Reichtum zu haben. Ich bin arm, wir sind arm, aber diese Armut ist ein immenser Reichtum.
Ursula: Was war schlussendlich der Auslöser, diese Gemeinschaft zur Selbstversorgung zu gründen?
Bernard: Wie gesagt, mit dem, was in mir lebte, gab es keinen Ort mehr, wo ich sein konnte, auch nicht in meiner jesuitischen Gemeinschaft. Die koreanischen Jesuiten sagten: „Warum unterrichtet er nicht Französisch an der Fakultät der Sprachen? Warum studiert er Buddhismus?“ Das ist das Überlegenheitsgefühl des Katholizismus gegenüber dem Buddhismus. Ich musste also einen Ort erschaffen, um mein Charisma zu leben.
Ursula: Kannst du etwas zu den drei Pfeilern Eurer Gemeinschaft sagen?
Bernard: Der erste Pfeiler: Was mich das ganze Leben getragen hat, durch Stürme und Depressionen hindurch, war immer das stille Gebet, die Meditation. Die Batterie eines Handys muss täglich mit Elektrizität aufgeladen werden. Auch der Mensch muss sich durch Meditation täglich mit spiritueller Energie aufladen. Meditieren ist für mich wie atmen. Wir leben im Heiligen Geist. Er war die treibende Kraft von Jesus von Nazareth. Im Heiligen Geist leben heisst, in der Erleuchtung zu leben wie Christus, der der Erleuchtete ist unter uns. Der Heilige Geist, „pneuma“ auf Griechisch, „ruah“ auf Hebräisch, heisst Atem. So wie wir konstant ein- und ausatmen, sind wir eingeladen, permanent im Heiligen Geist zu leben. Es genügt, zu meditieren. Wer regelmässig meditiert erkennt, dass das ganze Leben Meditation ist, von einem Moment zum andern, und nicht nur die Zeit, in der wir auf dem Kissen sitzen. Alles im Alltag wird zur Meditation.
Der zweite Pfeiler: Indem ich während fünfzehn Jahren Buddhismus an einer grossen Universität in Seoul unterrichtete, konnte ich enorm viel lernen. Gut angeeignetes Wissen trägt dazu bei, das spirituelle Leben zu nähren und zu vertiefen. Deshalb ist die Forschung und der Unterricht auf der Grundlage des Studiums heiliger Texte anderer Religionen auch wichtig für unsere Gemeinschaft.
Der dritte Pfeiler: Im Jahre 2010 sagte mir ein Bauer, mein Zugang zu Korea sei rein intellektuell. Ich habe ihm dafür gedankt, weil er recht hatte. Dieser Bauer ist auf einem Kartoffelacker zur Welt gekommen. Einige Zeit später kam er mit Gartengeräten und sagte: „Lass uns zusammen ein Feld bepflanzen.“ Indem er mich in die Landwirtschaft einführte, hat er mir, ohne es zu merken, nach und nach das Virus der Arbeit mit den Händen übertragen. Seit drei Jahren bin ich nun offiziell Bauer in Südkorea. Dazu braucht es mindestens 1‘000 Quadratmeter Land – wir haben 3‘000 m2. Als Ordensangehöriger habe ich das Armutsgelübde abgelegt, d.h. ich darf keinen Besitz haben. Dennoch hat mir mein Orden erlaubt, Besitzer des Landes zu werden.
Die Arbeit in der Landwirtschaft ist sehr hart. 95% der Menschen in Korea, die zurück in die Landwirtschaft gehen, verlassen sie wieder nach zwei Jahren, weil es zu beschwerlich ist. Mit der Landarbeit habe ich einen neuen Zugang zur Welt entdeckt. Die Erde hat mich mindestens so viel gelehrt wie das Doktorstudium und die fünfundzwanzig Jahre Arbeit mit den Koans. Jesus ist in Nazareth aufgewachsen, in einem bäuerlichen Dorf, innerhalb einer Agrargemeinschaft. Wer wirklich spirituell leben möchte, wird im Entdecken und in der Erfahrung der Bearbeitung der Erde viel dazu lernen.
Im Gedicht von Rainer Maria Rilke finde ich wunderbar formuliert, was mich als Mensch auf der Grenze zwischen den Kulturen, Sprachen und Religionen im Verlauf meines Lebens geprägt hat:
Habe Geduld
gegen alles Ungelöste in Deinem Herzen
und versuche die Fragen selbst liebzuhaben
wie verschlossene Stuben und wie Bücher
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind
Forsche jetzt nicht nach Antworten
die Dir nicht gegeben werden können
weil Du sie nicht leben kannst
Und es handelt sich darum:
alles zu leben
Lebe jetzt die Fragen!
Vielleicht lebst Du dann allmählich
ohne es zu merken
eines fernen Tages
in die Antwort hinein
Ganz herzlichen Dank Dir, Bernard, für dieses Gespräch.
Ursula Klumpp
Das Interview fand in französischer Sprache statt und wurde von mir übersetzt.
Link zu einem Video der Gemeinschaft „The Way’s End Stone Field Community“ (französisch)