Peter Zimmerling: Evangelische Mystik
Der Titel «Evangelische Mystik» sprang mir sofort ins Auge in den Neuanschaffungen der Bibliothek, vermisste ich doch bisher Material zum Thema. Der Autor Peter Zimmerling war mir vertraut von meiner Kontemplationslehrerinnenausbildung.
“Mystik ist katholisch. Mystik und Protestantismus passen nicht zusammen.” Diese Meinung ist weit verbreitet, aber trotzdem falsch», las ich auf dem Umschlag, was sich genau mit meiner eigenen Wahrnehmung deckte. Jetzt war mein Interesse definitiv geweckt! Zimmerling, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, schreibt: «Für Kirche und Theologie ist die Mystik überlebensnotwendig», also auch für die evangelische. Und: «Kontemplation ist nicht nur Voraussetzung, sondern tragender Grund und beständige Kraftquelle des christlichen Handelns». Diese Erfahrung teile ich.
Nach einer Einführung über die Stellung der Mystik in der protestantischen Tradition illustriert Zimmerling anhand konkreter Beispiele das Mystikverständnis prägender Persönlichkeiten der evangelischen Theologie, wie Martin Luther, Paul Gerhardt, Johann Sebastian Bach, Gerhard Teerstegen, Dag Hammarskjöld, Dietrich Bonhoeffer und als einzige Frau Dorothee Sölle. Dabei wird klar, dass es nicht einfach DIE Mystik gibt. Er zeigt auf, wie sich das Verständnis der Mystik im Lauf der Zeit entwickelt hat.
Eindrücklich ist, wie sehr die Mystik die Liedtexte, Musik und Poesie der evangelischen Tradition geprägt hat. Es lohnt sich, die auf den ersten Blick etwas altmodisch anmutenden Texte dem Publikum des 21. Jahrhunderts zu erschliessen.
In einer «kleinen Theologie der evangelischen Mystik» ordnet Zimmerling das Thema differenziert ein. Er hebt hervor, dass mystische Erfahrung und Verwurzelung in einer Tradition einander bereichern und befruchten. Entsprechend bleibt Zimmerling konsequent innerhalb seiner eigenen Herkunft. Einen bedeutenden Beitrag der evangelischen Spiritualität sieht er in der Demokratisierung der mystischen Erfahrung, die so für alle Menschen zugänglich wird, was mir ein Herzensanliegen ist.

Das Buch tut mir als Evangelische gut, weil es meine eigenen Wurzeln mit der Mystik verbindet und dabei gut begründet und belegt ist. Gelegentlich hätte ich mir vom Autor mehr Offenheit gegenüber anderen Traditionen gewünscht, sehe aber auch die Qualität seiner klaren Einordnung. Zimmerling betont, dass Erfahrung, will sie nicht in Beliebigkeit abgleiten, nur in einem konkreten Traditionsbezug formuliert werden kann. So betrachtet, sehe ich diese klare Begrenzung als Stärke des Buches. Gerade das ist es, was es auch interessant macht für Menschen anderer Herkunft.
Das Buch ist eigentlich ein Nachschlagewerk, so ausführlich, differenziert und vielschichtig. Zur Illustration drei Zitate aus dem Kapitel über die Mystiker:
1. Zur Theologie Luthers (S. 44)
“In der «Theologia Deutsch» wird folgendes Bild vom Christsein bzw. mystisch geprägtem Glauben vermittelt: Der Autor setzt implizit den mystisch verstandenen Glaubensweg von Reinigung, Erleuchtung und Vereinigung voraus. Dabei fällt auf, dass der Weg radikal als Handeln Gottes am Menschen interpretiert wird. Für den Menschen ist entscheidend, … sich das Handeln Gottes gefallen zu lassen und diesem nicht vorzugreifen. Das Problem aufseiten des Menschen besteht also nicht darin, auf diesem Weg zu wenig, sondern zu viel zu tun! … Auf dem Weg zu Gott geht es darum, sich ganz und gar auf das Eine, was nottut zu konzentrieren: Das ist Gott selbst; er allein ist wirklich wichtig. Dabei entspricht die Konzentrationsbewegung vonseiten des Menschen auf Gott hin der Bewegung Gottes auf den Menschen zu.”
2. Zu Bach: Zimmerlings persönliche Erfahrung (S. 111)
“Bachs Musik … lässt [mich] erahnen, dass es jenseits der Kerkermauern des eigenen Ichs noch eine andere Welt gibt. Indem ich Bachs Musik höre, werden die Mauern durchlässig für diese weit grössere Welt, von der ich nur ein Teil bin. Ich beginne zu ahnen, dass es eine unsichtbare Welt des Himmels gibt. Viele Christen erleben, dass Bach in seiner geistlichen Vokalmusik der eigenen Gottesbeziehung Ausdruck und Stimme verleiht. Dabei bildet eine von mystischer Innerlichkeit geprägte Beziehung zwischen Mensch und Gott das Zentrum.”
3. Zu Sölle: politisches Engagement (S. 195)
“Sölle vertritt eine «Mystik der offenen Augen»… , [die nicht dazu führen soll], Gott mit neuen Augen zu schauen, vielmehr, die Welt mit anderen Augen, nämlich mit den Augen Gottes, zu sehen: «Was in der mystischen Einung wirklich geschieht, ist nicht ein neuer Blick auf Gott, sondern eine andere Beziehung zur Welt, die sich die Augen Gottes geliehen hat» (364). Entscheidend ist für Sölle, dass durch die Mystik «nicht einfach eine Wendung nach innen, sondern ein Freiwerden für eine andere Lebensweise» erfolgt (365). Die Mystik bildet dabei nicht nur die Basis des Widerstands gegen das Unrecht. Sie hilft auch, den Weg des Widerstands … entschlossen zu gehen: im Sinne der Motivation, der Kraft, der Methode und des Ziels.”
Silvia Spycher, Kontemplationslehrerin via integralis
ISBN 978-3-525-57098-2, Vandenhock & Ruprecht, 283 S., 2020, 2. Auflage
Auch als Online-Ausgabe: ISBN: 9783666570988