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Herzens-Empfehlung für ein Buch

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Dieses Jahr im März erschien endlich eine deutsche Gesamtausgabe der Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum.

Mit Etty Hillesum habe ich mich bereits während des Theologiestudiums auseinandergesetzt in einem Seminar von Prof. Dr. Pierre Bühler, dem Herausgeber der deutschen Gesamtausgabe. Erneut ist mir Etty Hillesum im Lehrgang zur Kontemplationslehrerin via integralis begegnet, wo sie als Lieblingsmystikerin vorgestellt wurde. 

Dieses Buch ist meine Herzens-Empfehlung, weil mich das Leben dieser jungen Frau unglaublich beeindruckt. Die Zeit, in der sie lebt, und die Herausforderungen, vor die sie gestellt wird, hindern sie nicht daran, Dankbarkeit zu empfinden. Trotz aller Hoffnungslosigkeit, trotz aller Gewissheit des Todes, kann die 29-Jährige nicht anders, als Gott zu loben und zu danken. Sie schaut dem Tod ins Auge und akzeptiert ihn als Teil des Lebens. Ihre Tagebucheinträge sind differenziert und voller Weisheit, und ihre Gedanken sprechen von einer Tiefe, die berührt. 

Auf der Rückseite des Buches steht geschrieben: «Die Tagebücher der jungen Niederländerin Etty Hillesum sind, wie das Tagebuch der Anne Frank, ein bewegendes Dokument des Holocoaust und viel mehr als das: Sie wurden als philosophische Lebenskunst, Mystik des Alltags und Ethik des Mitleidens gerühmt. Vor allem sind sie aber auch eins: grosse Literatur.» 

Aus dem Tagebuch: «Es sind beängstigende Zeiten, mein Gott. Heute Nacht lag ich zum ersten Mal mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln und viele Bilder menschlichen Leidens zogen an mir vorbei. Ich werde dir eines versprechen, Gott, aber nur eine Kleinigkeit: Ich werde meine Sorgen um die Zukunft nicht wie beschwerende Gewichte an die Gegenwart hängen, aber das erfordert ein gewisses Mass an Übung. Jetzt ist jeder Tag an sich schon schwer genug. Ich werde dir helfen, Gott, dass du nicht in mir zugrunde gehst, aber ich kann im Voraus für nichts garantieren. Aber eines wird mir immer klarer: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst. Und das ist das Einzige, was wir in dieser Zeit bewahren können, und auch das Einzige, auf das es ankommt: ein kleines Stück von dir in uns selbst, Gott. Und vielleicht können wir auch mithelfen, dich in den geplagten Herzen anderer zutage zu fördern.» 

Etty Hillesum spricht mir aus dem Herzen – und ins Herz!

Etty Hillesum, Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe 1941-1943, München C.H.Beck, März 2023. 

von Andrea Weinhold
evang.-ref. Pfarrerin der Ökumenischen Kirche Halden in St. Gallen
beendet den 5. Lehrgang der via integralis im Herbst 2023