Über die Freiheit, die sich im Ethikcodex ausdrückt
Die brennende Frage, ob ethische Guidelines zeitgemäss sind, stellen wir uns spätestens wieder, wenn wir mit einer Situation konfrontiert sind, die uns oder unsere Mitmenschen im Kern trifft. Nicht selten sind wir emotional erschüttert und werden tendenziell aus der Bahn geworfen. Ein verbreitetes Thema ist der Umgang mit Missbrauch an Orten, wo Menschen sich in Sicherheit wähnen. Dann sind wir weiterhin Zeuge von zahlreichen Kriegen. Kontrovers beteiligen wir uns an der Diskussion zum Klimawandel, den einige nicht kommen sehen und andere als bereits eingetreten betrachten. Mich betrifft es immer wieder Zeuge zu werden von Handlungen, Worten und Gedanken, die als Wurzel für Schmerz und Unheil aktiv in unseren Leben wirken.
Die Abfolge von Handlungen, Worten und Gedanken ist nicht zufällig. In der Tradition des Stundengebetes innerhalb der klösterlichen Gemeinschaften wird regelmässig die Komplet gebetet. Zeitlich ist es nach Laudes am frühen Morgen, der Vesper und manchen mehr das letzte Gebet vor der Nachtruhe. Die Komplet führt zur Reflexion des vergangenen Tages. Sie komplettiert diesen im eigentlichen Sinn. Während der Komplet vergegenwärtigen sich die Betenden den verstrichenen Tag und rezitieren unter anderem das Schuldbekenntnis. Nun kann man sich ob der Formulierungen stossen, welche dieser Tage nicht mehr viel Popularität haben. Horchen wir jedoch auf die feinen Nuancen, so finden wir mit ressourcenorientierter Wortwahl Aspekte, bei denen wir wohlwollender hätten handeln können. Das Gebet lautet folgendermassen:
Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe – ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken – [alle schlagen an die Brust] durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld. Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, alle Engel und Heiligen und euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn.
Aus dem katholischen Stundenbuch
Die Zen-Peacemaker rezitieren anlässlich der sogenannten Reflexionstage den Sühnevers, der aus der Zen-Buddhistischen Tradition stammt. Darin wird dreimal folgender Text wiederholt:
Alles Karma, das ich seit Urzeiten begangen habe,
Sühnevers der Zen-Peacemaker
Aufgrund meiner anfangslosen Gier, meines Hasses und meiner Verblendung.
Geboren durch mein Handeln, Reden und Denken.
Jetzt sühne ich für alles.
Obwohl die beiden Textbeispiele aus unterschiedlichen Traditionen stammen, behandeln sie vergleichbare Aspekte unserer Lebensführung. Entsprechend unserer Prägung sind wir damit in Übereinstimmung oder spüren Widerstand gegen die geäusserte Fokussierung auf die Schwächen. Als wir vor einigen Jahren anlässlich unserer Vereinsversammlung von Kontemplationslehrenden den via integralis Ethikcodex vorstellten, störte sich jemand daran, dass die darin aufgeführten Aspekte nicht auf die Fülle, sondern auf den Mangel abzielten. Für mich sind an den genannten Gebeten bzw. den Formulierungen des Ethikcodex nicht die negativen oder positiven Vorzeichen bedeutungsvoll. Wichtiger scheint mir der resultierende Nutzen, den diese Orientierungspunkte uns bei unserer Verortung im sozialen Raum leisten und uns so im Leben zu orientieren helfen. Diese Funktion erfüllen die Texte so quasi als Buchstaben-basiertes Navigationssystem für den täglichen Gebrauch. Heutzutage ist es nicht populär zu postulieren, dass wir etwas nicht sollen. Mir geht es oft ähnlich. Dennoch scheint mir ein Beispiel aus der Physiologie anschaulich, dem ich vor Jahren in der Krankenpflegeausbildung begegnete. Unser von willentlicher Steuerung unabhängiges vegetative Nervensystem reagiert gelegentlich auf “negative Werte”, etwa wenn wir hyperventilieren, also zu viel Sauerstoff aufnehmen. Diese entgleiste Atmung kann nur korrigiert werden, indem wir dafür sorgen, dass der Kohlendioxidgehalt im Körper wieder so weit ansteigt, bis die Atmung sich normalisiert. Für den gesunden Körper sind hier die Schwellenwerte für die Zufuhr von benötigtem Sauerstoff also davon abhängig, dass der Gehalt des für den Körper schädlichen Kohlendioxids überschritten wird.
Ethische Leitlinien funktionieren vergleichbar. Je nach Naturell folgen wir vielleicht dem persönlichen Vorsatz, alle so zu lieben wie mich selbst – unter der Voraussetzung natürlich, dass ich mich auch wirklich mag. Andere finden mehr Orientierung in einem Text, wie die Ausrichtung der Kräfte, der anlässlich von via integralis Veranstaltungen regelmässig rezitiert wird. Bei bestimmten Gelegenheiten ist es hilfreich, sich der eigenen Art der Lebensführung zuzuwenden, etwa an Reflexionstagen. Dabei legen wir nicht ständig alles auf die Waagschale, was wir optimieren könnten – oder noch häufiger – wo andere besser machen sollten, sondern wir verorten uns anhand konkreter Aspekte in Bezug auf Themen wie Würdigung des Lebens, Umgang mit Besitz, Sexualität, Selbstwert, Wahrheit und geteilten Werten. Dabei hilft es, sich nicht in einem schwarz / weiss Schema zu verstricken. Vielmehr gilt es, eine Lebensweise zu entwickeln, die mit den Worten des Meta-Sutra darauf abzielt,« … nicht das Geringste zu tun, was von den Weisen später getadelt würde. Lasst uns diesen Gedanken kultivieren: Mögen alle Wesen gesund sein und in Sicherheit leben …». Wenn uns die Formulierung “Du sollst nicht stehlen” dabei zu rigid vorkommt, kann es hilfreich sein, eine Formulierung zu verwenden, die auf den angestrebten Zustand abzielt. Deshalb haben wir bei der Formulierung unseres Ethikcodex durchgängig darauf geachtet, Affirmationen wie «Nicht stehlend, verpflichte ich mich…» zu verwenden. Indem ich die Worte nun als affirmative Selbstverpflichtung ausspreche, stärke ich die Absicht, die darin enthalten ist. So in unserem Beispiel: «… nichts zu nehmen, was mir nicht gehört, den Besitz anderer zu respektieren und im Umgang mit Geld/Besitz aufrichtig zu sein.»
In diesem Beitrag lade ich dazu ein, zu reflektieren, wie die einzelnen Aspekte gegenseitig miteinander verbunden sind und sich bedingen. Vielleicht haben Sie eine Vertrauensperson in der Nähe, mit der Sie jenseits von Gut und Böse eine Standortbestimmung vornehmen können. Oder Sie nehmen sich mal die Zeit und verorten sich anlässlich eines Reflexion-Tages.