Interview mit Bernhard Stappel, Kontemplationslehrer via integralis
Bernhard Stappel (BS) gehört zur Gründergeneration der via integralis. Er hat mit seinem Engagement und seinen Ideen wesentlich zur Struktur und inhaltlichen Fülle unseres Vereins für Kontemplationslehrende beigetragen. Mit seiner Aufbauarbeit und Kreativität hat er unsere Lehrendengemeinschaft nicht nur geprägt, sondern immer wieder neu herausgefordert.
In diesem Interview erfahren wir viel Persönliches aus seinem Leben und hören von Motivationen und Hintergünden zu seinem Wirken in der via integralis.
Das Interview führte Francesco Pedrazzini (FP), Redaktionsmitglied und Co-Präsident des Vereins via integralis.
FP:
Bernhard, wie kamst Du zur via integralis?
BS:
Ich habe mich schon im Theologie-Studium mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst. Später kam es mir zugute: Inmitten einer beruflichen und persönlichen Krise mit ca. 40 Jahren lernte ich Niklaus Brantschen und Pia Gyger kennen und entschied mich, sofort mit dem Zen-Weg zu beginnen. Niklaus wurde mein Lehrer und Vorbild. Ich habe ihm viele Jahre assistiert. Und ich kann sagen: Die Praxis des Zen hat mein Christsein vom Kopf auf die Füsse gestellt.
2003 begann ich eine neue Tätigkeit in der Seelsorge – und daraus wurde ein Spagat zwischen Zen-Praxis und christlicher Verkündigung. Es war exakt der Zeitpunkt, wo Pia und Niklaus die via integralis gründeten und zum 1. Lehrgang einluden. Ich bekam plötzlich die Chance, meine spirituelle Erfahrung und das theologische Wissen zusammen zu bringen: beides in mir zu integrieren!
FP:
Was machte der Lehrgang mit Dir?
BS:
Im Lehrgang drehte sich vieles um das Verständnis von integral, beziehungsweise: Was bedeutet Integration? Und was integrieren wir? Christlich-buddhistisch? Begegnung Ost-West? Männlich-weibliche Spiritualität?
Aus dem entweder-oder wurde rasch gegenseitige Inspiration; wir lernten zweisprachig zu denken – das half mir auch in der Seelsorge, weil ich spürte: jeder Mensch, mich eingeschlossen, trägt in sich seine eigene „spirituelle Muttersprache“, mit der wir gewohnt sind, unsere Beziehung zu der Wirklichkeit, die wir Christen Gott nennen, und ebenso unsere vorsprachlich-religiöse Erfahrung in Sprache zu fassen.
FP:
Darf ich fragen, was das für dich bedeutet?
BS:
Meine Aufgabe als Seelsorger und Kontemplationslehrer, sehe ich nicht darin, etwas zu lehren, im Sinne von wissen-wo-es-lang-geht, sondern genau hinzuhören und in eine Beziehung mit den Menschen einzutreten, um sie besser zu verstehen. Nach dem Motto: Gott kennt das Herz jedes Menschen, und versteht die Sprachen aller Religionen, nicht nur die der Christen! Das ist in unserem globalen Zeitalter eine überlebenswichtige Einsicht. In der via integralis versuchen wir dafür einen praktischen Lernweg anzubieten, der nicht fix und fertig festgelegt ist, sondern stets aufs Neue für jeden ein Suchweg bleibt, eine Art Laboratorium. Dafür brauchen wir uns gegenseitig.
FP:
Du hast sehr bald nach der Gründung, zusammen mit Hildegard Schmittfull die Gesamtleitung der via integralis übernommen, hast im Lehrgangsteam mitgearbeitet, die Lehrer-Weiterbildung aufgebaut – und später, nach der Vereinsgründung, die Spirituelle Leitung übernommen. Hat das mit Berufung zu tun?
BS:
Ich würde eher von Charisma oder Begabung sprechen: Ja, ich habe eine gewisse Begabung, strukturelle Prozesse wahrzunehmen und, insofern sie unbewußt ablaufen, sie ans Licht zu heben und zu gestalten, damit sie dem übergeordneten Ziel fruchtbar sind. So kam ich dazu, ein Gefäß für die Weiterbildung der Absolventen des Lehrgangs zu initiieren. 2011 fand die erste Weiterbildung statt zum Thema „via integralis – ein christlicher Initiationsweg. NADA als Eingangs-Schlüsselwort.“ Seitdem gibt es jährlich diese Weiterbildung. Dabei geht es (modern ausgedrückt) um Qualitätsentwicklung der Lehrenden-Rolle. Ein 3-jähriger Lehrgang macht noch keine perfekten Kontemplationslehrende. Auch nach der Ernennung bleiben wir „lernende Lehrerinnen und Lehrer“ solange wir leben. Wenn die Lernbereitschaft abnimmt, verblasst die Qualität unserer spirituellen Erfahrung.
Wenn du nach meiner Berufung fragst, dann sprichst du eine andere Ebene an.
Was mich angeht, kenne ich sie als eine Art innere Stimme seit meiner Kindheit. Sie ist verbunden mit der Sehnsucht nach einer lebendigen Beziehung zum „Großen Du“, wie Dag Hammarskjöld es formuliert. In diesem Sinne habe ich in meinem Leben viele „Zeichen am Weg“ erlebt. Um aber für diese Beziehung zur Transzendenz offen zu bleiben, muß ich meine spirituelle Intuition immer wieder neu sensibilisieren und ausrichten. So bin ich durch manche Krise hindurch gekommen – vielleicht kann ich sagen: geführt worden.
Das meine ich mit Berufung.
FP:
Du hast den Vertiefungsweg des NADA initiiert – aus einem tiefen inneren Bedürfnis heraus. Ich empfinde es als so etwas wie dein Lebensprojekt. Wie kamst du dazu?
BS:
2013 war für mich ein wegweisendes Jahr. Ich hatte mich schon 2008 intensiv mit „NADA als Eingangs-Schlüsselwort“ befasst. Es blieb ein Unbehagen. Was mich umtrieb war die geballte Energie, die ich im Klang dieses kleinen Wörtchens NADA verspürte. „Gott ist ein lauter Nichts“ dichtet Angelus Silesius und bringt diese meine Unruhe auf den Punkt. Denn das Nada-Nihil-Nichts verbindet zahlreiche Zeugnisse christlicher Mystikerinnen und Mystiker durch die Jahrhunderte wie ein roter Faden. Aber meine Beschäftigung damit blieb zunächst Kopfarbeit.

2013 ging meine berufliche Tätigkeit in der Seelsorge zu Ende.
Da nahm ich mir eine 3-monatige Auszeit, um den Übergang zu gestalten und herauszufinden, was für die bevorstehende Phase wichtig sein sollte. Mein Freund Juris Rubenis in Lettland vermittelte mir eine einfache Hütte direkt an den Dünen der Ostsee. Ich war mit mir allein:
„Das Meer, der Himmel und ich“ schrieb ich ins Tagebuch.

Auf Anraten von Niklaus Brantschen nahm ich Dogens Shobogenzo als Lektüre mit. Darin zog mich das Shikantaza, das „Nur Sitzen“ als Ur-Modell des Zazen, immer mehr in seinen Bann. Nichts als Sitzen: In dieser Übung liegt – so Dogen – die ganze Fülle des Lebens. Das wollte ich schmecken. Die 3 Monate wurden zur Entdeckungsreise. „Nichts als Sitzen“ – da war es wieder: das NADA. Durch das Zazen, dem radikalen Vollzug des Loslassens, wurde NADA endgültig Teil meiner Meditationspraxis und durchleuchtete allmählich mein ganzes Leben. Ich wurde selbst immer mehr zu diesem NADA. Ich begann meinen Körper als „leere“ Form neu wahrzunehmen, quasi als „Tempel” der Heiligen Geistkraft, die in mir wohnt.
Das NADA wurde zur Herausforderung, die Gegenwärtigkeit zu leben. Plötzlich verstand ich die Worte Jesu aus Lukas 17: „Das Reich Gottes ist nicht da und dort, es lebt inwendig in euch!“ Mit dieser Erfahrung begann für mich eine neue Etappe meines spirituellen Weges. Der NADA-Vertiefungsweg war geboren.
Ich bin dankbar, daß die via integralis heute mehrere Zugangswege für meditierende Menschen bereithält: neben dem “Weg der Schlüsselworte” gibt es das „Nur Sitzen in wacher Präsenz“ und eben auch den „Weg des NADA“. Was den Ausdruck Vertiefungsweg angeht, spreche ich auch gerne vom “Praxisweg mit NADA”. Es geht darum, daß wir mit dieser Übung des Sitzens in Stille bewußt einen Pfad spiritueller Praxis betreten, der unser Leben, unseren Alltag prägen wird: Schritt für Schritt. Im tieferen Sinne geht es um die Transformation von Gewohntem in ein neues Bewußtsein. Wir können es vielleicht als eine Art „Neuprogrammierung unseres egoischen Betriebssystems“ verstehen, wie Cynthia Bourgeault es ausdrückt. Die Bibel spricht davon „ein neuer Mensch zu werden“.
FP:
Bernhard, Du hast Spuren hinterlassen! Zahlreiche von dir verfasste Broschüren auf unserer Webseite zeugen von deinem Engagement für eine gut strukturierte Ausbildung zu Kontemplationslehrenden. Was war Dir besonders wichtig dabei?
BS:
2008 wurden Hildegard und mir die Leitung der Via Integralis übergeben. Uns war von Anfang an klar: Das wichtigste bei unserer Art von Kontemplation ist die Praxis des Zazen. Sie unterscheidet uns von anderen Kontemplativen Wegen im Bereich christlicher Spiritualität. Es ist sozusagen das Herzstück der via integralis, das Pia und Niklaus uns anvertraut haben, das „Nur Sitzen – in wacher Präsenz“! Das bedeutet: Wir meditieren nicht im Stile des Zen sondern praktizieren Zazen nach den Regeln dieser alten Kunst.
In diesem Sinne habe ich zusammen mit einigen Lehrer*innen die entsprechende Handreichung „Die Praxis des Zazen in der via integralis“ erarbeitet – und ergänzend dazu eine weitere Anleitung für die „Sitzhaltungen“ in der Meditation. Sie wurden 2015 veröffentlicht. Ich wünschte, daß alle Lehrer*innen diese praktischen Handouts stets zur Hand haben, wenn sie nach der via integralis gefragt werden.
Ein anderes Projekt war das „Handbuch für die Kontemplationskurse der via integralis“, das erstmals 2011 vorgestellt wurde zusammen mit einer “Sammlung von Gebeten und Rezitationen”. Beides sollte der Identität unserer Kontemplationsschule dienen – daran sollte man uns erkennen. Die Inhalte sind kein Dogma, aber die Rituale sind nicht beliebig. Das Handbuch ist Bezugspunkt für Anleitung und Weitergabe der Kontemplationspraxis. Dennoch bedarf es der Anpassung an Gegebenheiten vor Ort, an denen Kontemplation angeboten wird. Damit muß jeder/jede Lehrer*in verantwortlich umgehen können.
Schließlich weise ich noch auf meinen „Kommentar zum NADA“ hin, der 2011 entstanden ist im Zusammenhang mit der 1. Lehrer-Weiterbildung. In ihm beschreibe ich den inneren Prozess, der uns auf diesem Weg erwartet: Je mehr wir uns „mit Haut und Haar“ darauf einlassen, werden wir immer mehr zu uns selbst geführt – bis zu dem Punkt, wo wir selbst zu diesem NADA werden und es verkörpern. So wie es ein mittelalterlicher Meister formuliert: „Der WEG ist nicht weit. Du mußt deinem Gott nur bis zu dir selbst entgegen gehen“.
(Anm d. Red: alle hier erwähnten Broschüren und Texte sind für Mitglieder der via integralis von unserer Webseite viaintegralis.ch herunterladbar unter: “über uns” -> “Texte und Anleitungen zur Kontemplation”)
Das sind die wichtigsten Veröffentlichungen. Andere Broschüren sind Gelegenheitsprodukte auf bestimmte Anlässe hin, z.B. Bruder-Klaus-Jubiläum 2017. Auch am Buch “via integralis – wo Zen und christliche Mystik sich begegnen” von Niklaus und Pia, das ebenfalls 2011 erschien, durfte ich maßgeblich mitarbeiten.
FP:
Neben der Einzelbegleitung siehst Du die Gemeinschaft von Übenden als spirituellen Lernort. Wie kommst du darauf?
BS:
Bezüglich Begleitung möchte ich zunächst sagen, daß ich 25 Jahre lang auf dem Koan-Weg unterwegs war, begleitet von Niklaus Brantschen, meinem Lehrer. Ich habe sehr viel von ihm gelernt, er ist mir als Zen-Lehrer bis heute Vorbild! In der Kontemplation mußte ich aber lernen, daß es da Unterschiede gibt. Bei der Begleitung mit Schlüsselworten ist das nach außen vielleicht nicht so sichtbar. Aber bei der konsequenten NADA-Praxis bin ich nur in der Anfangsphase „Lehrer“ im klassischen Sinne. Da geht es um das konsequente Einüben in die Gegenwärtigkeit. Da gibt es keine Kompromisse. Es ist wie bei einem Training und das kann Jahre dauern.
Wenn diese Erfahrung internalisiert ist, geht der spirituelle Weg aber weiter; dann bin ich vor allem als „Begleiter“ gefragt – entscheidend kommt es darauf an, eine Beziehung zum „Inneren Meister/zur inneren Meisterin“ aufzubauen. Die christliche Mystik nennt diese Erfahrung „Christus in mir“. Auch dieser Abschnitt geht nur in Einzelbegleitung. Meine Aufgabe ist es dann, die Sensibilität und Hörfähigkeit für die „leise Stimme“ des Herzens zu schulen, um das von Jesus angesprochene berüchtigte „Nadelöhr für den Zugang zum Ewigen Leben“ (Mk 10) passieren zu können. Hier kann der Umgang mit NADA als Leitwort sehr hilfreich sein.
Später kommt eine Zeit in der Art des „Pilgerns“ bzw. der Selbsterfahrung mit Christus als innerem Begleiter. Wir entdecken nach und nach die Schätze der Mystik und machen sie uns zu eigen. Zum Beispiel die wunderbaren Gebete und Rezitationen von Dionysius Areopagita, Bruder Klaus, Johannes vom Kreuz, Dag Hammarskjöld u.a., die nun aus der eigenen Erfahrung von innen her zum Leuchten kommen. Wir lernen dann sozusagen in den Fußstapfen der Mystiker zu gehen… Und irgendwann ist dann die Zeit „reif“ – ich nenne den Zustand „Einssein im Alltag“. Dann genügen kleine Talks „auf Augenhöhe“, die ich mit Übenden vereinbare; die modernen Medien sind hier durchaus hilfreich.
FP:
Und die Bedeutung der Gruppe?
BS:
Neben der Begleitung von Übenden im Einzelgespräch ist in der via integralis generell die Gemeinschaft der Übenden ein spiritueller Lernort von großer Bedeutung. Sie erwächst aus dem gemeinsamen Sitzen in Stille. Wir haben deshalb bei den Lehrgängen von Anfang an die sog. „Lernpartnerschaften“ eingeführt: Im Dialog einer festen Lerngruppe lerne ich über meine innere Erfahrung zu sprechen und gemeinsam darüber zu kommunizieren. Das ist eine wichtige Kompetenz, wenn ich andere Menschen begleiten will.

Daraus ist eine Dialog-Kultur entstanden, die wir explizit in der NADA-Vertiefungsgruppe pflegen, einer Gruppe von Übenden auf dem Praxis-Weg des NADA mit langer Erfahrung. Sie trifft sich dreimal im Jahr. Inzwischen wächst unter uns die Wahrnehmung eines WIR, das mehr ist als die Summe der Erfahrungen einzelner Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Es konstelliert sich ein gemeinsamer Lernweg, der alle Beteiligten inspiriert und voranbringt. Wir lernen gemeinsam und voneinander, was spirituell leben bedeutet. Beim Hören aufeinander entsteht so etwas wie ein WIR-Raum mit einem mehr an Bewußtheit, welches das bipolare Setting des Einzelgesprächs allein nicht bieten kann. Ich bin überzeugt, daß uns hier ein Schlüssel in die Hand gegeben ist, den wir auch kollektiv als Menschheit auf dem Weg in die Zukunft dringend brauchen.
FP:
Du warst noch vor kurzem schwer krank und dem Tode nahe. Was hat dieser tiefe Lebenseinschnitt mit dir gemacht?
BS:
Zunächst möchte ich vorausschicken: ich blieb mein ganzes Leben lang gesund und von schwerer Krankheit verschont. Dennoch war ich mehrfach an bestimmten Kreuzungspunkten meines Weges mit der akuten Möglichkeit des Todes konfrontiert. Aber ich durfte weiterleben – nun mit dem Wissen, welch großes Geschenk mein Leben darstellt.
Nach meinem 70. Geburtstag wurde ich dann plötzlich mit einer Krebsdiagnose konfrontiert, die zunächst ganz unauffällig verlief, im Sommer 2022 aber eskalierte. Chemotherapie, Ansteckung durch Corona und eine schwere Lungenentzündung brachten mich innerhalb weniger Monate an den Rand meiner Lebenskräfte. Der Ausgang war offen. Es pushte mich unvermittelt in einen völlig neuen Zustand, wo mir mein Leben wie eine Zumutung vorkam. Ich spürte instinktiv die spirituelle Herausforderung, die darin enthalten war: Was nützt dir deine Spiritualität, wenn du einfach keine Kraft mehr zum Leben hast? NADA hat mich gelehrt, jeden Augenblick als solchen bewußt zu leben, ja ihn willkommen zu heissen. Das war meine Rettung. Allerdings mußte ich mein Leben neu „lernen“: Atmen unter Atemnot; den Umgang mit meiner Gedanken-Achterbahn in schlaflosen Nächten; das blinde Tasten nach einer Gegenwart an meiner Seite, die mit mir mein Leiden teilt. Und in all dem die Dauer-Übung des NADA-NADA-NADA nichts als NADA. Ich kam mir vor wie ein Anfänger – und spürte dennoch: genau dies und genau so ist das ganze Leben! Diese Erfahrung und die heilende Nähe von Gabriele, meiner Frau, halfen mir durch die Talsohle hindurch.
Im Rückblick kann ich sagen: Es war in gewisser Weise eine Art Sterben und Auferstehen. Seitdem spreche ich anders von NADA, vom Üben auf dem Kissen, von der Großen Gegenwart in meinem Leben. NADA aussprechen bedeutet für mich seither einfach: Ja zu sagen zum gegenwärtigen Moment, so wie er sich mir zeigt.
FP:
Welche Bedeutung hat aus Deiner Sicht die via integralis in der heutigen Welt?
BS:
Ich nenne ein paar Stichworte, die mir persönlich wichtig sind:
Viele Menschen tragen, trotz medialer Überforderung die Sehnsucht nach einer Kultur der Stille in sich. Es kann nicht genug Räume und Gemeinschaften geben, wo diese Kultur nah an den verschiedenen Lebensräumen erfahren und eingeübt werden kann.
Die via integralis schärft unser Bewußtsein, dem So-Sein unserer Welt, wie sie ist, ins Auge zu schauen, und Zeugnis zu geben von unserem Wissen um die Verbundenheit mit Allem. Die Zielgestalt unseres kontemplativen Lebens ist vorgegeben: Dem Leben dienen. Da stimmen Christus und Buddha völlig überein!
Ein Schlüssel ist der bewußte Umgang mit eigenem und mit fremdem Leid oder Leiden: wir benötigen dringend einen zeitgemäßen Zugang zu dem, was die christliche Mystik das „Kreuz Christi“ nennt; das Kreuz ist nicht nur ein Narrativ von vor 2000 Jahren, sondern brutale Realität für zahllose Menschen around the world. Wie viele Menschen sind allein gelassen mit dieser Erfahrung. Vor wenigen Jahren haben wir die Initiative „Meditieren für eine friedliche Welt“ gestartet. Davon braucht es noch viel mehr. Denn unsere Kontemplation verändert sich im Angesicht des Leidens.
Der Zustand unserer Weltsituation wird zunehmend chaotisch und bedrohlich. Gleichzeitig macht sich die Ohnmacht wie ein Virus in den Herzen der Menschen breit. Auf ihrer Rückseite warten Wut, Aggression und Destruktivität. Der integrale Weg, den Polarisierungen zu widerstehen, ist für die Zukunft der Menschheit unverzichtbar, wollen wir nicht in der gegenseitigen Vernichtung landen. Teilhard sagte: „Die Menschen werden zur Menschheit; liebt oder ihr geht zugrunde“. Das ist heute bitterer Ernst!
Dazu braucht es von jeder und jedem Einzelnen die Bereitschaft zur Transformation, sich verändern zu lassen und die Komfortzone zu verlassen. Das, was Jesus eine „neue Schöpfung“ nennt, ist kein Luxusartikel, den wir konsumieren könnten. Sie beginnt bei jedem einzelnen, in der Stille unseres Herzens.
Ich darf abschließend nochmals auf den Praxisweg mit NADA hinweisen: er bietet eine gute Möglichkeit, sich bei dieser persönlichen Transformation begleiten zu lassen. Je tiefer wir in ihn eintauchen, umso mehr können wir erfahren, was Menschsein wirklich bedeutet!
FP:
Herzlichen Dank, Bernhard!
Link zur Chronik der via integralis 2004-2021
lieber Berhard, lieber Francesco
ganz herzlichen Dank für dieses wunderbare Interview. Ich habe es soeben das zweite Mal gelesen und freue mich sehr, an den Aussagen, die in mir Erinnerungen und grosse Resonanz hervorrufen und auch an den neuen Hinweisen. Bernhard, du hast sehr, sehr viel zur Gestaltung und Entwicklung der vi beigetragen und ich möchte dir einfach an dieser Stelle wieder einmal danken dafür, dass du dich sowohl persönlich als auch in der Gemeinschaft der vi mit Haut und Haaren einlässt auf den WEG. Ja, unsere Berufung fordert und fördert uns sehr intensiv – Danke, das du JA sagst dazu. In herzlicher Verbundenheit
Margrit Wenk-Schlegel