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Mich dürstet nach der Quelle

Kurz vor seinem Sterben am Kreuz rief Jesus: “Mich dürstet”. Drückte er damit ein körperliches Verlangen aus oder war es die Sehnsucht, aus seiner Erfahrung der Gottverlassenheit erlöst zu werden und wieder die Verbundenheit mit der Quelle allen Lebens zu erfahren? Wir wissen es nicht. Das Leben von Jesus war durchdrungen von der Tiefenerfahrung der Einheit, die er ausdrückte mit den Worten: “Ich und der Vater sind eins.”1 Und am Kreuz dann die Seelennot in der Frage: “Mein Gott, warum hast du mich verlassen?”2 Kann man sich tieferen Schmerz  vorstellen, als die Verlassenheit im Erleben, aus dieser Einheit herausgefallen zu sein?

In der Zeit seines Wirkens erlebte Jesus eine Begegnung mit einer Frau am Jakobsbrunnen. Er bat die Frau aus Samaria, ihm Wasser zu schöpfen, um seinen körperlichen Durst zu stillen. Mit dem Becher in der Hand wies er darauf hin, dass der Durst des Leibes immer wieder zurückkehrt, dass er aber ein Wasser schenken kann, das unseren Durst für immer stillt: Ein Wasser, das die wohl tiefste Sehnsucht des Menschen nach Verbundenheit mit der Quelle allen Lebens stillt, ein Wasser, das auch uns ganz gewöhnliche Menschen erkennen lässt: Der Vater und ich sind eins. 

In meiner Zenschulung wurde die Sehnsucht, die Menschen in eine intensive Suche nach der Essenz allen Lebens treibt, “Durst” genannt. Ja, es braucht einen grossen Durst, um stundenlang, tagelang, wochenlang in der Schweigemeditation zu sitzen, oft verbunden mit Schmerzen. Und doch treibt viele Meditierende ein existentielles Müssen, diesen Erfahrungsweg zu gehen, der uns so unbeschreiblich viel schenkt, auch wenn er sehr viel von uns abverlangt. Das erlebe ich auch als Kontemplationslehrerin in der Begleitung von Menschen. Der Weg in die eigene Tiefe ist nicht immer ein Honiglecken, denn er führt, nebst den zutiefst beglückenden Erfahrungen, durch die Abgründe des Menschseins in der Begegnung mit dem eigenen Schatten und durch das “Abschälen”, wie die christliche Mystik es nennt. Johannes vom Kreuz hat von der dunklen Nacht der Seele geschrieben, in der alle vermeintlichen Sicherheiten abfallen und die innere Führung nicht mehr gespürt werden kann. In solchen Phasen muss der Durst gross sein, um auf diesem herausfordernden – und doch zutiefst beglückenden – Weg zu bleiben. 

Ein Text aus meinem Tagebuch, geschrieben in einer Wüstenzeit:

Meine Kraftlosigkeit aushalten
weitergehen im Nebel
unauffindbar das Ziel
nur das leise Sehnen
der Seele ahnt die Spur.

Schleppende Schritte des Nichtwissens
aushalten.

Mich führen lassen
ohne Führung zu spüren
in der Wüste des Nebels.
Grau und einsam die Schritte. 

Meine Dunkelheit aushalten.

Die Sehnsucht nach Licht
leise – mehr Ahnung als Sehnen –
spinnwebengleich.

Tastendes Suchen des Nichtwissens.

All meine Trockenheit hinhalten.
Hoffend, DICH in der Öde 
meines Herzens zu finden.

Hinhalten – mich hinhalten
zur Wandlung.

In solch schmerzhaften Phasen des Weges ist es gut, begleitet zu sein von einer erfahrenen Person, die weiss, dass diese Wüstenerfahrungen Wegstrecken sind, die uns formen und immer tiefer hineinverwandeln in das, was wir im Tiefsten sind: Ausdruck der göttlichen Liebe, Mensch geworden. 

“Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
3

Diesen Satz von Nelly Sachs erlebe ich in der Rückschau auf mein Leben und auch in den heutigen Prozessen. Von klein auf war ich ein sogenanntes Heimwehkind. Es quälte mich nicht das Heimweh nach meinen liebevollen Eltern, sondern das Sehnen nach der geistigen Heimat, aus der ich kam und von der ich meinte, sie durch die Inkarnation verloren zu haben. Nicht verwunderlich, dass eine Krankheit entstand, die mich immer wieder in die Todesnähe und in Nahtoderfahrungen brachte. So wurde ich zu einer Grenzgängerin zwischen Leben und Tod – aus Sehnsucht nach der wahren Heimat. Damals glaubte ich noch, sterben zu müssen um heimzukommen – und das auch noch nach der letzten Nahtoderfahrung.

Ein Tagebucheintrag von diesem Erleben:

“Drei Wochen nach der Geburt unseres zweiten Kindes in Kolumbien setzen ganz starke Nachblutungen ein. Ich rufe nach Hilfe und werde ins Spital gebracht. Die Blutung ist nicht zu stillen, rasch werde ich in den Operationssaal gefahren. Das letzte, was mein Mann Charlie und ich noch hören, ist der Ausruf der Krankenschwester: ‘Schnell, diese Frau stirbt!‘ Mein Mann muss Blutspender suchen, sonst bekomme ich kein Blut. Der Arzt beginnt mit der Kürettage, bevor die Narkose wirkt. Ich tauche weg, versinke in Dunkelheit. Keine Ahnung, wie lange ich dort war, kein wahrnehmendes Bewusstsein, Bewusstlosigkeit.

Da, ein plötzliches Auftauchen in eine Erfahrung, für die alle Worte zu schwach und zu eng sind. Ich bin angekommen in meinem Daheim. Totales Drin-sein im Licht, in einer unbeschreiblichen Licht-Liebe. Ganz drin-sein und gleichzeitig durchflutet werden von einer unbeschreiblichen Liebe. Ich weiss, diese Liebe ist die Erfüllung aller Sehnsucht. Baden in dieser Liebe, sie trinken, aber gar nichts tun als diese Licht-Liebe wahrnehmen – und das bei ganz klarem Bewusstsein. Ich bin drin, ich bin erfüllt, ich bin geliebt und liebe, bin ganz daheim. Ein Aufgehoben-sein im Ganz-Grossen, in der unendlichen Liebe. Keine Frage, kein Erstaunen, nur unbeschreibliches Glück, Liebe, Leichtigkeit, Wärme….. Irgendwie sind da auch Klänge. Aber nicht hörbar, denn alles ist Schwingung von Licht. ‘Tönt‘ Liebe so?

Ich bin trunken von Glück. Da ist kein Gegenüber, nur Liebe und trotzdem weiss ich, dass ich gemeint bin.
Es ist wie ein Schweben in den ‘Wolken‘ von warmer Licht-Liebe. Jubel, Dankbarkeit in mir. Ein tiefes Zugeneigt sein, Trunkenheit – unbeschreiblich! Plötzlich, völlig unvorbereitet sehe ich durch ein quadratisches Loch auf die Erde. Ich bin erstaunt, auch in der Erfahrung, über diese quadratische Form. Sie passt überhaupt nicht in diese Umgebung.

Durch dieses Loch sehe ich meinen Mann Charlie mit den beiden kleinen Kindern bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen Kloten, meine Eltern schwarz angezogen vor der Glaswand. Ich spüre ihren gewaltigen Schmerz. Grenzenlose Liebe zu diesen Menschen und eine unbeschreibliche Entschiedenheit und Kraft durchfahren mich. Wilder Aufruhr in mir. ‘Nein, Gott!‘, schreie ich ohne Klang aber mit wilder Kraft, ‘nein, ich kann nicht bleiben – noch nicht. Jetzt noch nicht, ich muss zurück, ich kann sie nicht allein lassen!‘ Ich weiss, es wäre wunderbar, zu bleiben, ganz einzutauchen in die Glückseligkeit, aber ich kann es trotzdem nicht, ich will es nicht! Mit aller Kraft zieht es mich zurück ins irdische Leben. Die Liebe zieht. Da ist niemand, der mich zurückhalten würde, niemand, die mich schickt, da ist nur absolut klare Entschiedenheit und Liebe in mir. Auch keine Frage, wo es mir besser gefallen würde. Nur wilde Entschiedenheit und Liebe.

Diese beiden Kräfte sind das Letzte, was ich bewusst erfahre – danach tauche ich irgendwann im Aufwachsaal auf. Auferstehung ins irdische Leben. Tränen der Dankbarkeit und der tiefen Berührung über das Erfahrene und über das Geschenk des neuen Lebens. Langsames Auftauchen in diese neu geschenkte Wirklichkeit. In diesem Auftauchen werde ich von der Krankenschwester gefragt, ob ich das schreiende neugeborene, schwarze Büblein stillen würde, seine Mutter könne es nicht. Ich denke nicht an die Narkosemittel, die noch in mir drin sind und willige schlaftrunken ein. Der kleine Krauskopf trinkt gierig und holt mich damit ganz in meinen Körper zurück. Er schläft nachher viele Stunden lang… meine Narkose hat nachgewirkt – und ich hoffe fest, dass sie ihm nicht geschadet hat.

Und doch, auch nach dieser prägenden Erfahrung blieb ein Gefühl des Getrenntseins von Gott, der Quelle allen Lebens. Es blieb eine ziehende Sehnsucht nach dem Wesen aller Dinge. Dieses nach Innen-gezogen-werden äusserte sich im starken Wunsch nach Stille. Noch sehnte sich mein Herz nach der Essenz allen Lebens, obwohl ich sie in den Nahtoderfahrungen in mir erlebt hatte, noch schienen mir Gott und Schöpfung getrennt. Oder war es eher so, dass das, was ich suchte, mich suchte?     

Charlie, mein Mann unterstützte mich in diesem Durst nach dem Urgrund allen Lebens und ermöglichte mir eine jahrelange Zenschulung und anschliessend die Ausbildung zur Kontemplationslehrerin, indem er in meinen Abwesenheiten unsere drei Kinder allein übernahm. 

Die Stille schält uns, Vorstellungen und Identifikationen lösen sich auf, entstehen neu, lösen sich erneut auf bis ins Hineinfallen in Erfahrungen, für die es kaum Worte gibt.

Doch gehört es in den Prozess der Integration, Worte zu finden für das Unsagbare:

Dort,
wo Gott keinen Namen mehr hat,
nicht mehr Gott,
auch nicht DU.

Dort am ortlosen Ort
in unserem Herzen,
wo nichts ist und alles
.

Dort, wo alles Werden 
schon immer Sein war
.

Dort gibt es nur noch 
das wortlose JA.

Dass ich Menschen in der Schweigemeditation in ihre Tiefe begleiten darf, erlebe ich als grosses Privileg. Was für ein Geschenk ist es doch, wenn Menschen ihre Sehn-sucht bewusst wahrnehmen und sie nicht fehlgeleitet in Sucht zu befriedigen suchen! Manche Menschen werden durch Schicksalsschläge und Not auf den inneren Weg geführt, andere spüren, dass etwas mehr existieren muss als ein noch so erfüllter Alltag, wieder andere suchen in der Stille nach Antworten auf brennende Fragen oder wollen sich selbst erforschen und erfahren dabei das, was Teresa von Avila immer wieder betont hat: keine Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis. 

Bei vielen Meditierenden ist der Durst nach der Quelle gross. So schreibt die Kontemplationsschülerin Ingrid Wälti:

“Das Gefühl, das wir Sehnsucht nennen, kennen Menschen sehr gut, die notgedrungen ihre Heimat verlassen mussten. Diese Form der Sehnsucht nennen wir Heimweh. Ist unsere spirituelle Sehnsucht nicht ebenso Heimweh nach unserer geistigen Heimat, die uns ruft?  Dieser Ruf lässt uns immer wieder unsere Widerstände und unsere Trägheit überwinden und uns je neu auf das Strömen dieser Urkraft, die wir gemeinhin mit “Gott” bezeichnen, eintreten. So gesehen ist unsere Sehnsucht Chance und Geschenk, oder vielleicht könnte man auch sagen, sie ist unsere spirituelle Nabelschnur, die uns je neu in die Beziehung ruft und die uns nährt.”

Das Sitzen in der Stille ist also ein Heimweg aus aller Äusserlichkeit in ein inneres Erleben, in eine Öffnung des Bewusstseins in die grenzenlose Weite des Urgrundes. Das Zazen, die Schweigemeditation des Zen, ist das Kernstück unserer Form der Kontemplation via integralis, die Zen und christliche Mystik verbindet. Wir üben die gegenstandslose Meditation. Alle Bilder und Vorstellungen werden losgelassen und die klare Gegenwärtigkeit wird immer intensiver erfahren. Wenn eine Gruppe von Meditierenden miteinander über Tage mit Hingabe in der Stille sitzt, ist mir der Satz von Meister Eckehart immer ganz nah: “Es ist eine Kraft in der Seele, die ist weiter als die ganze Welt. Es muss gar weit sein, worin Gott wohnt”.4 

In dieser erfahrenen Weite erleben die Meditierenden auf eine intensive Weise die Verbundenheit allen Lebens, ja die Einheit mit dem Urgrund, den wir Gott nennen. Daraus entsteht ganz natürlich der Wunsch, dass alle Wesen in Glück und Frieden leben können und dass wir unseren ganz persönlichen Beitrag dazu leisten wollen. Im Alltag zeigt sich, wie prägend eine Einheitserfahrung war: Kann ich, christlich ausgedrückt, Christus in jedem Gegenüber erkennen? Weiss ich in meinem Herzen, dass die Menschen, die oft unter unmenschlichen Bedingungen unsere günstig zu kaufenden Kleider herstellen, genauso Ausdruck der göttlichen Liebe sind wie wir? Drängen mich die tiefinneren Erfahrungen in eine bewusste Verhaltensänderung? Wie kann ich, ganz persönlich, mich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen? Woran erkennt man “erwachte Menschen”? Ich meine, sie müssten erkennbar sein an ihrem Durst nach Leben in Fülle für alle Wesen und an ihrer Sehnsucht nach einer von Egozentrik erlösten und friedvollen Welt.

Innerlichkeit will und muss sich äussern. So stellt sich nach jeder Tiefenerfahrung die Frage, wie das Erlebte in den Alltag umgesetzt werden kann. So ganz im Sinn eines Koans der Zentradition: Alltag ist der Weg! 

Oder wie es die moderne “Mystikerin der Strasse” Madeleine Delbrêl ausdrückt: 

“Geht in euren Tag hinaus ohne vorgefasste Ideen,
ohne die Erwartung von Müdigkeit,
ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn,
ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek –
geht so auf die Begegnung mit ihm zu.
Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist
und nicht erst am Ziel.
Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden,
sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens.
5

Margrit Wenk Lehrendenportrait

Margrit Wenk-Schlegel, Kontemplationslehrerin via integralis
www.meditation.margritwenk.ch 


  1. Joh 10.30 ↩︎
  2. Mt 27,46 ↩︎
  3. Sachs, Nelly; Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels ↩︎
  4. Döll, Ermin; Wege der Meister l, 1988 ↩︎
  5. Delbrêl, Madeleine; Gott einen Ort sichern. Topos 2010, S 3 ↩︎

Der Beitrag ist erstmals erschienen in:
inspiration

Zeitschrift für christliche Spiritualität und Lebensgestaltung. Ausgabe 1-2/2025, S. 20-27
Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Echter Verlag, Würzburg

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