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Das Tor der Mystiker:innen

Wie Stille, Dunkelheit und Atem das Leben offenbaren

Stille, Dunkelheit und Atem öffnen einen inneren Resonanzraum, in dem sich das Leben in seiner ganzen Fülle offenbart – jenseits von Gedanken, jenseits von Gegensätzen. Dieser Beitrag lädt Sie ein, die sichtbare waagerechte Ebene für einen Moment loszulassen und in die vertikale Tiefe des Körperinnenraums einzutauchen – dorthin, wo das Leben heil und unantastbar ist.

Für den Verstand ist das stille Sitzen nicht wirklich interessant. Wenn wir Menschen einladen, für eine Zeit lang einfach nichts zu tun als zu sitzen und still zu sein, so macht das für viele erst einmal keinen Sinn. Wir definieren uns meist über das Machen, die Ergebnisse und das, was sichtbar ist und sich messen lässt.

Wer länger sitzt, macht jedoch andere Erfahrungen. In diesem Beitrag möchte ich Interessierten eigene Erfahrungen mit dem Mysterium der Dunkelheit nahebringen, die vielleicht auch für andere unterstützend sind. Weil ich dazu einladen möchte, sich auf einen Erfahrungsweg einzulassen, spreche ich Sie und euch, liebe Leser:innen, im folgenden direkt an.

Eine erste Erfahrung

Zuerst eine Frage:
Was verbinden Sie mit dem Begriff Dunkelheit?

Bei den meisten Menschen löst das Wort Dunkelheit mehr oder weniger Unbehagen aus. Wir befinden uns damit in einem unsichtbaren und unbekannten Bereich, der mit persönlichen Bildern und Vorstellungen gefüllt und eng gehalten ist. Wir sind es gewohnt, unsere Welt und unser Leben zu einem grossen Teil über das Licht – das, was sichtbar ist – mit Hilfe der Augen wahrzunehmen. Das gibt uns Sicherheit, weil wir uns darin zurechtfinden und uns eingerichtet haben.

Doch aus den Texten zahlreicher Mystiker:innen wissen wir, dass es eine andere Ebene gibt, die wir nicht sehen können, die jedoch genauso existiert. Meister Eckhart sagt: „Die Dunkelheit ist das Licht, das keiner sieht.“
Wenn ich die Teilnehmer:innen zu Beginn unserer Kurse einlade, auf ihrem Sitzkissen anzukommen, die Augen zu schliessen, sich mit dem Atem zu verbinden und das, was war und sein könnte, loszulassen, so offenbart sich bei den meisten Menschen dasselbe.

Und damit dies nicht nur ein Text bleibt, lade ich Sie herzlich ein: Bevor Sie weiterlesen, nehmen Sie sich bitte ein bis zwei Minuten Zeit. Schliessen Sie die Augen, verbinden Sie sich mit dem Atem und spüren Sie, wie Sie bei sich selbst ankommen.

Aufrichtung und Vertikale

Was haben Sie in dieser kurzen Zeit festgestellt?
Bei den meisten – auch bei mir – ist es so, dass der Körper beginnt, sich aufzurichten, vielleicht auch, sich neu zu positionieren. Er schwingt sich in eine gewisse Ordnung ein. Das ganze System beruhigt sich. Auf eine wundersame Weise breitet sich eine Ruhe, Leichtigkeit und Aufgerichtetheit aus – es sei denn, der Körper ist gerade sehr müde, dann zeigt sich eher das Bedürfnis, sich hinzulegen.

Eigentlich ist unser Kopf in der sichtbaren, waagerechten Ebene zu Hause. Dort fühlt er sich sicher, dort kann er messen, ordnen und verstehen. Doch an der Erfahrung des inneren Raumes hat er keinen wirklichen Anteil.

Das Leben selbst aber ist in einer anderen Dimension zu Hause – in der vertikalen Ebene des Körperinnenraums. Diese Vertikale öffnet sich nach innen, in die Tiefe. Sie ist zeitlos, nicht-dual, eine Qualität des Seins: Eine hochschwingende Frequenz von heil und ganz. Sie offenbart sich uns Menschen in Gestalt jener Qualitäten, die wir im Inneren wahrnehmen können – wie Ruhe, Frieden, Freude, Fülle, Schönheit.

Es ist dieselbe vertikale Kraft, die ein Kleinkind im ersten Lebensjahr aufrichtet – und die die gesamte Natur in die Höhe führt: Pflanzen, Bäume, Wälder. Vielleicht tut uns der Wald deshalb so gut, weil er voll von aufrichtenden Kräften ist.
Der Atem ist dabei unser Schlüssel: Er führt uns mit jedem Ein- und Ausatmen tiefer in diesen Innenraum, wo sich das Unsichtbare in einem Resonanzraum offenbart.

Nonduale Qualitäten

Wenn wir länger in dieser Haltung verweilen, wie wir es von der kontemplativen Praxis kennen, offenbaren sich weitere Qualitäten: Ruhe, Frieden, Verbundenheit, Kraft, Sanftheit, Reinheit, Fülle, Klarheit, Ordnung, Leichtigkeit, Lebendigkeit, Dankbarkeit, Freude, Stille, Gelassenheit, Schönheit, Hingabe und Absicht.

Diese Qualitäten sind nicht persönlich – genauso wie das Leben selbst nicht wirklich persönlich ist. Sie sind zeitlos und nondual. Es ist also nicht die persönliche Freude, die auf der anderen Seite Trauer hat, oder die persönliche Verbundenheit, die auf der anderen Seite Trennung kennt. Nein – diese Qualitäten sind reine Seins-Qualitäten, ohne Gegensatz.

Auch das Leben selbst ist nicht dual. Es zeigt sich zwar in Polaritäten – wie Geburt und Tod, männlich und weiblich –, doch in seinem Wesen ist es ungeteilt, unantastbar heil und ganz.
Das Überraschende dabei ist: Diese Qualitäten brauchen keinen Grund. Sie entstehen nicht aus einer Ursache oder Bedingung – sie sind Ausdruck des Lebens selbst. Das Leben ist nicht leer, sondern von Natur aus erfüllt.

Anandamayi Ma, eine Mystikerin aus Indien, hat es so formuliert:Wahre Freude kennt keinen Gegensatz. Sie ist nicht die Belohnung, sondern das Wesen des Seins.“
Diese Qualitäten offenbaren sich nicht einfach isoliert – sie werden spürbar in einem Resonanzraum. In diesem inneren Raum klingen sie an, wie eine Saite, die zum Schwingen gebracht wird.

Die dunkle Nacht

Auf der persönlichen, waagrechten Ebene unseres Lebens begegnen wir Gegensätzen: Licht und Schatten, Freude und Schmerz, Trost und Trostlosigkeit. Auch in der inneren Praxis ist das nicht anders. Es gibt Zeiten, in denen sich Ruhe, Leichtigkeit und Fülle zeigen – und dann wieder Leere, Trockenheit oder gar Verzweiflung. Mystiker:innen nennen dies die „dunkle Nacht der Seele“.
Auf der vertikalen, unpersönlichen Ebene jedoch – im Innenraum, den wir im Atem hüten – bleibt das Leben ungeteilt.

Aus eigener Erfahrung weiss ich: Der Atem hat mich auch in schwierigen Zeiten getragen, wenn ich mich ihm zuwandte und ihm Raum gab. Es war, als würde mich eine unsichtbare Hand halten und führen. Auch wenn es mich auf der horizontalen Ebene durchschüttelte, blieb in mir ein Raum des Vertrauens offen, der mir Kraft gab und Hoffnung schenkte – selbst dann, wenn noch kein Licht sichtbar war. In diesem inneren, vertikalen Raum spürte ich die Gewissheit: Auch diese schwere Wolke geht vorbei.

Und so hat sich mir nach solchen Zeiten immer wieder das unantastbare Leben offenbart: heil und ganz. Die „dunkle Nacht“ ist deshalb kein Scheitern, sondern Ausdruck eines Wandlungsprozesses: Das Alte zerfällt, damit das Neue geboren werden kann – nicht als etwas Fremdes, sondern als tieferes Erkennen dessen, was immer schon da ist: das eine LEBEN, zeitlos und ungeteilt.
Zugleich wächst das Vertrauen, Mensch zu sein – gehalten von diesem grösseren Leben. Und das wünsche ich Ihnen auch. 
„Wenn der Mensch nichts mehr hat, was ihn trägt, dann trägt ihn Gott.“ (Meister Eckhardt) 

Dunkel-raum und Atem

Damit wir einen solchen inneren Raum eröffnen können, ist der Atem unabdingbar. Ohne die Anbindung des Atems wären wir in diesem endlosen, weiten unsichtbaren Raum der Dunkelheit verloren. Dunkelheit, wie ich sie hier benenne, ist nicht die physische Dunkelheit der Nacht. Dunkelheit in unserem Sinne meint ganz einfach: Das wahre Leben können wir nicht sehen, auch draussen bei Tageslicht nicht.

Wir sehen draussen nur, wie sich dieses Mysterium – das LEBEN – zum Ausdruck bringt: Über die Natur, Bäume, Formen. Doch das LEBEN selbst ist nicht sichtbar. Es ist eine Qualität. Und sie offenbart sich uns erst dann, wenn wir ihr einen inneren Resonanzraum bereitet haben.

Der Atem hilft uns, diesen Raum zu hüten – wie im Meditationsrad des Bruder Klaus oder im Zenkreis (Ensō): Wir stülpen das Aussen nach innen, grenzen uns ab vom endlosen äusseren, unsichtbaren Raum und bewahren einen Resonanzraum. Ein Raum, in dem das Unaussprechbare wahrnehmbar wird.
Die dann mögliche Erfahrung beschreibt Rumi so: Du bist kein Tropfen im Ozean. Du bist der ganze Ozean in einem Tropfen.“

Auch die Natur zeigt uns dieses Prinzip der Einstülpung. In der Zeit der Embryonalentwicklung beginnen sich die Eizellen nach innen zu stülpen. Wir könnten auch sagen: Das Leben stülpt sich nach innen – es kehrt sich ins Verborgene, um in einem geschützten Raum heranzureifen. Das, was zuvor aussen war, wird plötzlich innen. Erst in diesem begrenzten Raum kann das grenzenlose Leben mit sich in Resonanz kommen durch das Zurückschwingen und sich selbst erfahren. 

Genauso kann auch in unserer spirituellen Praxis eine Qualität in uns heranwachsen: Vielleicht Stille, Ruhe, Kraft, Fülle, eine neue Ordnung… 
Es ist ein wenig so, wie wenn eine Taschenlampe erst dann einen klaren Lichtstrahl zeigt, wenn sie auf eine Wand trifft. Erst in der Begrenzung wird das Unsichtbare sichtbar und erfahrbar.

Thomas von Aquin hat es in seiner Sprache so ausgedrückt:Was unbegrenzt ist, bleibt unkenntlich – nur im Mass wird es erkannt.“

Eine kleine Übung

Wir können dabei das Meditationsrad des Bruder Klaus betrachten.

Setzen Sie sich bequem auf einen Stuhl oder auf Ihr Sitzkissen.
Beginnen Sie nun, in Ihren Bauch zu atmen. Sie können dazu eine Hand auf den Bauch und die andere mit dem Handrücken an Ihren Rücken legen.
Mit jedem Einatem wird der Bauch weit und mit jedem Ausatem schwingt der Bauch zurück.
Spüren Sie, wie sich dadurch ein innerer Raum öffnet? Wie der Atem beide Hände von innen berührt?

Nun beginnen Sie, auch Ihren Ausatem in diesen Raum zu führen. Das gelingt ganz einfach über ein hörbares Summen oder Tönen (wir können ja nur mit dem Ausatem tönen). Spüren Sie dabei, wie Ihr innerer Raum angeschwungen wird – bis an die Körperinnenwände?
Wenn Sie das Summen und Tönen gut als Vibration spüren, führen Sie das Tönen wieder in einen stillen Ausatem über. Doch ahnungsweise lassen Sie Ihren Innenraum im Ausatem weiter anschwingen.

Das nennen wir Präsenz:
Sie sind im Einatem präsent in Ihrem Innenraum, Sie sind im Ausatem präsent in Ihrem Innenraum. Und wenn es nach dem Ausatem eine Pause gibt, sind Sie auch da präsent.
Mehr und mehr wird sich in Ihnen in diesem inneren Raum ein Mittelpunkt bilden. Über dieses Zentrum können Sie gleichmässig mit einem einzigen Einatem den ganzen Innenraum füllen – ihre Körperinnenwände berühren.
Beim Ausatem in den Innenraum spüren Sie weiterhin die Körperinnenwände. Vielleicht gelingt es Ihnen sogar, diese Innenwände mit Hilfe Ihres Ausatems geschmeidig weiter auszudehnen – über die Körpergrenze hinaus.

Nun sind wir beim Meditationsrad des Bruder Klaus angekommen: Der Einatem zentriert und erfüllt, der Ausatem weitet. Mehr und mehr offenbart sich in diesem von Ihnen gehüteten Raum die ganze Fülle des Lebens. Oder in den Worten von Bruder Klaus: «Christus wird darin geboren.»

Einladung zur Praxis

Spüren Sie den Wunsch, Ihre Sitzpraxis zu vertiefen – mit Bewegung, Atem und Stille?
Dann lade ich Sie herzlich zu einem besonderen Wochenende im Juli 2026 in Wislikofen ein:

Stille & Bewegung – Praxis-Wochenende: Körperübungen für die Kontemplation
10.–12. Juli 2026, Propstei Wislikofen

Innerhalb der via integralis hat sich eine neue Arbeitsgruppe gebildet – mit erfahrenen Körpertherapeut:innen, die erforschen, wie Bewegung und Körperbewusstsein die kontemplative Praxis vertiefen und bereichern können. Dieses Wochenende gestalten wir gemeinsam aus dieser Forschungsarbeit heraus.
Wir werden entdecken, wie Atem und einfache, achtsame Körperübungen das stille Sitzen auf eine kraftvolle und zugleich sanfte Weise unterstützen. So entsteht ein Zugang zum inneren Resonanzraum, der uns mit den Qualitäten des Lebens wie Stille und Frieden verbindet, die in uns und um uns herum schon immer da sind.
Die Ausschreibung wird in Kürze auf der Website der Propstei Wislikofen veröffentlicht.

Ich wünsche Ihnen ein gutes Sitzen und Erkunden Ihres inneren unsichtbaren Raumes – und freue mich, wenn wir uns nächstes Jahr in Wislikofen begegnen.

Ananda Hämmerli
Kontemplationslehrer via integralis Stufe 1, Atemtherapeut und Dunkelraum-Begleiter aus Heiden-Appenzell, www.soulmoving.ch

Und das Schlusswort von Hildegard von Bingen: 
„Dunkel ist das Geheimnis, aus dem das Licht geboren wird.“

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