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GEBOREN WERDEN WIR NACKT

Wir kennen uns seit diesem Sommer, die Birke und ich, und haben begonnen, Jahreszeiten miteinander zu teilen. Wenn auch nicht einheimisch, verwurzelt steht sie da. Ich bin erst zugezogen. Zugewandt sind wir einander durchs Fenster. Auf meiner Augenhöhe präsentiert sie ihre Baumkrone. Ob ich stehe, sitze oder liege – sie ist da. Ihre Gegenwart spricht mich an, sobald ich im Zimmer bin. Ehrlich, wir haben ein Verhältnis, in aller Verschiedenheit ein inniges. Auf Kälte scheinen wir unterschiedlich zu reagieren: Während ich mir eine Schicht mehr überziehe, kommt sie mit immer weniger aus. Zuerst verlor sie ihre Farben, dann auch die Blätter, die ihre Farben getragen haben… und jetzt zeigt sie sich mir mehr oder minder nackt. Ist Nacktheit auch etwas, das man trägt? Ein letztes Etwas oder ist sie nichts? Mein Blick ruht mittlerweile auf der Birke, geht durch sie hindurch, sucht Tiefe. Das Bild löst sich auf, das Fragen erübrigt sich. Auch was Birke ist, was ein Ich. Ruhe ist da. Friede. Ein Ja. 

Später erinnere ich mich an einen älteren Kollegen. Wie es ums Sterben ging, bat er die Pflegenden, ihn auszuziehen. Nackt wollte er unter der Decke liegen. Nackt sei er geboren worden, nackt sei er eigentlich sein Leben lang geblieben, nackt möchte er sterben. Und so geschah es auch. 

Die Birke wird mir wieder zum Vis-à-vis. Mir wird bewusst: Ihre Nacktheit war immer schon da. Wegen ihres Blättermantels habe ich sie übersehen. Meine Augen wandern jetzt zwei Stockwerke den Stamm hinunter. Erkenne verschiedentlich grün bemooste Stellen, Efeu rankt sich in fettem Grün zu mir in die Höhe. Bemerke unten die bräunliche Einfärbung der Rinde, oben im jüngsten Bereich blenden Äste weiss wie Schnee. Nehme im Stamm auch Risse und Narben wahr, als wären da Platzwunden gewesen. Wie sich in allem Leben zeigt! Ich atme durch. Dank ist da… und mit ihm ein Moment, in dem ich meine Nacktheit annehmen kann. Ein Geschenk! Das ist «bei-leibe» nicht immer so. Auch wenn ich mit mir alleine bin, bin ich nicht vom «anderen Blick» frei, schaue mich an, als sei ich ein «Anderer», werde mir selbst zum Objekt und sehe mich so, wie mich andere auch anschauen können und sie ihre Blicke auf mich werfen, ja: werfen! Es ist die Scham, die «urplötzlich» da ist. Die Scham macht es schwierig, Nacktheit zu ertragen.

«Was, ich bin ohne Höschen auf die Welt gekommen?!» Nein, lustig habe er das ganz und gar nicht gefunden, völlig erschrocken sei er gewesen, wie er sich auf einem Foto mit Nabelschnur und Schmiere neugeboren auf ihrem nackten Bauch habe liegen sehen, erzählt mir die Mutter von ihrem Fünfjährigen. Inzwischen hat er sich offensichtlich mit dem «anderen Blick», mit dem «Blick der Anderen» betrachten gelernt. Und mag schon vor rund drei Jahren begonnen haben zu realisieren, dass das, was er im Spiegel sieht, er selbst ist. Faszinierend und erschreckend in einem, ein «heiliger» Augenblick? Und jetzt ist er «im Bild» und ist mit seiner Nacktheit konfrontiert. Wie lässt sich das aushalten? Erwachendes Bewusstsein spiegelt sich darin. 

Ein Narrativ dazu finde ich im Mythos vom Verlust des Paradieses. Befreie ich den Text, wie er sich zeigt, vom Schuldkonzept, das ihm als Korsett angezogen worden ist, erlebe ich mit, wie der Mensch als Adam und Eva aus der selbstverständlichen Ganzheitlichkeit herausfällt, sobald ihm «die Augen aufgehen» für seine Nacktheit. Was «Welt» ist und wie Menschen sich in ihr bewegen, fühlt sich anders an. Erkennen sie einander, ist in der Begegnung auch Nacktheit gegenwärtig. Sie können einander wie ein Objekt wahrnehmen und einander beurteilen. Zurück ins Frühere führt kein Weg.

Scham scheint uns im genetischen Programm mitgegeben zu sein, sie stellt sich unabhängig von Kulturen und Wertinhalten ein, entwickelt sich im Zusammenhang mit fortschreitender Individuation und ist in seiner Ambivalenz auch als schier unerträgliches Lebensgefühl wertzuschätzen. Denn Scham ist nicht nur ein Gefühl, Scham hat auch eine Funktion – sie ist «Türhüterin des Selbst» (Daniel Hell), das sich abgrenzt und (!) verbunden ist mit den andern. Sie zeigt an, wenn das Kohärenzerleben in einem Menschen gefährdet ist und setzt Prozesse in Gang, die das problematische Erleben seiner selbst ins Bewusstsein heben und für den Einzelnen beantwortbar machen. In der Verantwortung leben wir unsere Würde. 

Schäme ich mich, erlebe ich mich zunächst als vereinzelte Person. Wie bei einer Geburt werde ich in eine «Welt» ausgestossen, in der ich fremd bin und (noch) «fremdle». 
Gleichzeitig bleibe ich in meiner schamhaften Vereinzelung auf die menschliche Mitwelt bezogen. («Scham-los» würde dieser Bezug wegbrechen, ich lebte in narzisstischem Selbstbezug. Narzissmus, Schamlosigkeit und Beschämung anderer hängen zusammen.) Im Unterschied zu Angst und Wut bringt mich Scham aber in eine Situation, aus der ich nicht flüchten kann. Ich habe eine Wahrheit anzuerkennen, die ich nicht wahrhaben wollte oder die ich übergangen habe. Scham hilft mir, die Würde wieder herzustellen: «Ich bin’s, der sich in dieser Situation so und so verhalten hat.» Im Mythos können Adam und Eva diesen Schritt nicht machen. Sie bleiben verstrickt. Die Verantwortlichkeit schieben sie einander zu und verpassen sich selbst. 

Selbstbehauptungen geben auf die Schnelle einem Druck nach. Mögen Kränkungen im eigenen Selbstbild auf langen Wegen daherkommen und subtil das Erleben mitbestimmen oder grob und massiv hereinbrechen – sie suchen Entlastung, sobald sie sich melden. 

Scham als Reaktion bietet «weitere» Möglichkeiten als es Selbstbehauptungen tun: Sie kann zur Auseinandersetzung mit sich selbst führen. Der Weg dorthin wird leichter, wenn Zuwendung und Anteilnahme Raum bekommen. Im Vorwurf Geworfenes wird dann als differenzierende Kritik aufgefangen und kann Bearbeitung finden, bewusst und willentlich und auch in einem Prozess, der sich «wie von selbst» innerlich vollzieht, sobald ich nicht dagegen ankämpfe, meine Nacktheit bejahen kann und offen bin für das, was sich meldet.  

In der gegenstandslosen Sitzmeditation erlebte ich schon Phasen, in denen mich Kränkungen «heimsuchten». Sie wurden mir angetan, ich habe sie andern angetan, ich habe sie mir angetan… Tränen flossen. Kain und Abel fanden sich… und können miteinander tanzen. In sitzender Übung findet die Scham ihren guten Ort, ich kann nicht flüchten und brauche nichts zu verhüllen. Stelle mich meiner Nacktheit – mal mit dem verinnerlichten «Blick der Anderen», mal mit einem ruhigen Ja und bin da wie die Birke. Bin Birke. 

Ich freue mich an der «nackten Geburtlichkeit» des Herbstes… und auf Weihnachten, wie von ihr gesungen wird: «…er liegt dort elend, nackt und bloss…». Nichts von Windeln! Dem Fünfjährigen blinzle ich zu und lächle. 

Urs Zangger, Kontemplationslehrer via integralis

Leopold Szondi und Josua Boesch danke ich für einen Zugang in Freundschaft mit Kain&Abel; Daniel Hell für die Klarsicht, wie «not-wendig» Scham ist. 

Literatur: 
Daniel Hell, Lob der Scham – Nur wer sich achtet, kann sich schämen, Giessen 2018

Bilder:
Birkenillustration, Baum, Feld: pixabay
Foto einer Birke im Winter: pixabay
Portrait Urs Zangger: KG Nidau/Marco Roth

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