Zum Inhalt springen

Mystik des Seins – Mystik des Werdens

von Hildegard Schmittfull

Mystik des Seins – Mystik des Werdens
Inspiriert vom Koan-Weg der zenbuddhistischen Tradition haben einige Lehrer und Lehrerinnen
der via integralis begonnen, einen Initiationsweg auf der Basis biblischer und christlicher
Schlüsselsätze zu entwickeln. Auf dem Weg nach innen soll er eine Hilfe sein, unser tiefstes
Wesen und das Wesen aller Wirklichkeit tiefer zu erfahren. Der Kontext ist also unsere
westliche und christliche Prägung. Viele von uns verdanken den Erfahrungen auf dem KoanWeg ein neues und vertieftes Verständnis unserer eigenen christlichen Glaubensinhalte und der
biblischen Schriften. Im Einlassen auf biblische Schlüsselworte begegnen wir zuallererst und
notwendig dem Grund allen Seins als Erfahrung der Einheit. Doch wird die letzte Wirklichkeit im
Christentum trinitarisch gesehen, das heisst als eins und verschieden – als Liebe und Beziehung,
die unendlich schöpferisch ist.
Bernardin Schellenberger bringt dies in unübertrefflicher Weise auf den Punkt: „Das
Christentum hält das Ín-Beziehung-Leben für derart wesentlich, dass es sich nicht einmal das
Ich Gottes als beziehungslos vorstellen kann und deshalb die paradoxe Vorstellung des
„dreifaltigen Gottes“ entwickelt hat, die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Über diesen
Beziehungsprozess lehrt sie, dass er derart intensiv sei, dass er selbst wiederum die Qualität
einer personhaften Wirklichkeit, des sogenannten Hl. Geistes annehme. Im lateinischen Credo
wird er als der bezeichnet, der aus dem Vater und dem Sohn procedit (hervorgeht). Von diesem
Wort ist „Prozess“ abgeleitet, das die Alternative zur „Struktur“ ist, nämlich jene integrative
Kraft, die auf paradoxe Weise transzendent-immanent ist, radikal von allem abhängend und
doch originell etwas eigenes, das einmalige Ich ausmachend und sich doch nicht von allem
anderen als Nicht-Ich absetzend. Mit der christlichen Dreifaltigkeit wird also versucht, eine UrStruktur, oder genauer ein Ur-Prozess alles Seienden zu benennen“. (Bernadin Schellenberg, Spirituelle Wendezeit. Grundlinien einer neuen Lebenskultur. Herder 1997, S 48)

Das bedeutet, dass wir aus christlicher Perspektive im Umgang mit biblischen Schlüsselworten
einen Blick und eine Sprache für die Einheit und Verschiedenheit, für das Sein und Werden, d.h.
das Prozesshafte mit entwickeln müssen. Für mich sind die Beiträge der Bewusstseinsforschung
in den letzten Jahrzehnten eine hoffnungsvolle Hilfe, uns diesem Komplex zu nähern und
unsere Erfahrungen in Worte zu fassen.
Was meint Mystik? „Mystik ist bewusste und reflektierte Erfahrung der Gegenwart Gottes.“
Diese Definition von Mariano Delgado gefällt mir gut. In ihr kommen Erfahrung und Reflexion
zusammen. Mystik ist seit jeher eine konfessionsübergreifende Spiritualität, die von den
äusserlichen Unterschieden der einzelnen Wege absieht und vor allem Wert auf die eigene
authentische Erfahrung legt.
Das entspricht dem Wesen von via integralis, schaffen wir doch in unseren Angeboten Räume,
in denen Menschen spirituelle und mystische Erfahrungen machen können. Wir praktizieren
Zazen und lassen uns in thematischen Impulsen von christlichen Mystikern und Mystikerinnen
inspirieren. Auf diese Weise partizipieren wir an zwei verschiedenen religiösen Traditionen und
versuchen als Zeichen der Zeit, östliche und westliche Ansätze in unserer Praxis zu integrieren.
Als Kontemplationsschule sind wir stetig dabei, unsere Erfahrungen zu reflektieren und unsere
Erkenntnisse zu vertiefen.

Der Kern einer Mystik des Seins ist das Erwachen zu unserem eigenen wahren Wesen –
christlich gesprochen zum Göttlichen in uns. Dieses absolute Bewusstseins erfahren wir in dem
Moment als weite offene Leere (oder auch Fülle), auf deren Hintergrund alle Erfahrungen und
Phänomene erscheinen, ohne dass da ein Anfang oder Ende ist, – kein Kommen, kein Gehen. Es
ist Quelle von allem und Soheit. Denn dieses Eine, dieses „einfach das!“ zeigt sich in den
unterschiedlichsten Formen, auch als persönliches Ich, womit wir uns identifizieren und das uns
unterscheidet von allen anderen Formen. „Als Unendlichkeit verlangt es uns Staunen ab, als
Gott fordert es Verehrung; als Wahrheit fordert es Weisheit, und als das eigene Wahre Selbst
fordert es Identität. Sein Wesen kennt keine Einschränkungen, und diese Spurlosigkeit währt
ewig.“ (Ken Wilber, Das Atman Projekt, S 247)

Ken Wilber nennt die mystisch Erwachten „die wachsende Spitze des geheimen Impulses der
Evolution“. Für ihn sind sie die Speerspitze des Drangs zur Selbst-Transzendenz, die immer über
dasjenige hinausgeht, was vorher war. Sie verkörpern nichts anderes als den Drang des Kosmos
zu mehr Tiefe und einer Erweiterung des Bewusstseins.
Damit sind wir bei der Mystik des Werdens und der evolutiven Sichtweise unserer Wirklichkeit
angekommen. Die Gegenwärtigkeit des Seins ist die eine Seite der Wirklichkeit. Die andere
Seite verdeutlicht: Alles, was existiert unterliegt einem Entwicklungsprozess. Das gilt für alles,
was existiert, für die Dinge um uns herum und auch für uns selbst. Selbst unser spirituelles
Bewusstsein unterliegt einer Entwicklung, vom undifferenzierten Glauben an ein höheres
Wesen hin zu einem Glauben, der das Ganze nondual sehen kann, – in dem Erde und Himmel
verbunden sind. Das Leben will wesenhaft sich selbst übersteigen, will wachsen – und wenn wir
entsprechend unseren Prägungen, Verletzungen, Ängsten auf einer Stufe stehen bleiben, die
dualistisch, dogmatisch, fundamentalistisch geprägt ist, dann stehen wir uns selbst und
unserem tiefsten Wesen im Weg. Die Sehnsucht in uns will sich im Ganzen beheimaten, die
Stufe des reifen Erwachsenen ist die mystische Sichtweise, die die Oberfläche und die Tiefe des
Lebens zusammensehen kann. Und das meint einerseits die Erfahrung unseres tiefsten Wesens,
das unversehrt und unveränderlich ist, und andererseits die Erfahrung, dass wir Wesen im
Werden sind.
In dem Moment, in dem ich anfange, meine eigene Erfahrung zu deuten, geschieht das im
Kontext meiner Kultur, religiösen Erziehung und Bildung. Das bedeutet, ich habe Strukturen in
mir, die mir es ermöglichen, mich verständlich zu machen – allerdings auch zu begrenzen. Der
Blick auf meine eigenen Strukturen lässt mich sehen, dass mein Bewusstsein sich entwickelt
hat: „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, urteilte wie ein Kind. Als
ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war.“ Es ist Paulus, der uns das so treffend
sagt. Auch meine Liebesfähigkeit verändert sich: am Anfang ist sie ego-zentriert, narzistisch. Mit
der Zeit wird sie selbstloser, weitet sich auf andere Menschen, ja dann auch auf die Menschheit
und die Schöpfung.
Eine Mystik des Werdens transzendiert solch einen Weg. Wenn ich das Göttliche erfahren habe,
dann wird mein Sehen transzendiert. Indem ich mich tiefer erfahre, verstehe ich, dass das in
mir Angelegte offenbar werden will, es will „Fleisch werden“, es will sich ausdrücken und es will
Gott ausdrücken. Und ich weiss, dass es niemand so tun kann, wie ich es tue. Es ist also ein
ständiges Verbundensein mit dem Göttlichen in mir als der Raum des Möglichen. Und es ist
eine Kraft in mir, die mich bewegt, so dass ich nicht stehen bleibe, sondern wachse zu der, die
in mir angelegt ist und die sich in die Welt als kreativer Impuls einbringen und diese
mitgestalten will.

Andrew Cohen formuliert das so: „Letztendlich sollte es ein einziges nonduales Ereignis werden,
bei dem die drei unterschiedlichen Aspekte unserer Erfahrung – der des Seinsgrundes, des
kreativen Impulses, sich zu entwickeln, und unsere hoch entwickelte Kapazität für Kognition –
alle Teil einer Matrix werden, einer einzigen sich entfaltenden Erfahrung…. Als der GEIST den
Sprung aus der Formlosigkeit in die Form, vom Nichts zum Ewas, aus dem Sein zum Werden tat,
manifestierte er sich aus der Leere als kreativer Impuls – als Drang zu werden, als Sehnsucht zu
existieren. … Und dieser Impuls besteht aus zwei Dingen: Es ist das Verlangen, unseren eigenen
Grund zu entdecken – die Quelle unserer Geburt und die Heimat, aus der wir alle ursprünglich
kommen. Zugleich ist es der ursprünglichste kreative Impuls selbst. Oder, um es theologisch
auszudrücken, es ist der Gottes-Impuls. Es ist der Wille zur Schöpfung und zur Evolution.“

Mir scheint, da ist in wenigen Zeilen ausgedrückt, was ich als „trinitarisch“ bezeichne. Da ist
kein Nacheinander von Leere und Form, von Zeitlosigkeit und Zeit. Das ist ein Geschehen, das
sich „jetzt“ ereignet, in diesem Augenblick – nondual – gleichzeitig! Und diese Gleichzeitigkeit
ist in manchen unserer Schlüsselworte ausgedrückt, zum Beispiel: „Am Anfang war das Wort
und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. … Und das Wort ist Fleisch geworden….“
(Joh 1,1).
Hildegard Schmittfull

Schreibe einen Kommentar