von Regula Tanner
«Was muss ich tun…» Diese Frage stellt sich im Alltag zurzeit fast täglich. Vielleicht in Varianten wie: «Was soll ich tun», «Was darf ich tun?», oder auch «Was soll ich gerade nicht tun?». Es sind Fragen, die dort gestellt werden, wo die eingeschliffenen Muster nicht mehr tragen oder durch neue Entwicklungen durchbrochen werden.
In der Bibel wird die Frage «Was soll ich tun?» zweimal mit einer Fortsetzung gestellt: «Was muss ich tun, um ewiges Leben zu erben?» Einmal ist es der reiche Jüngling (Lukas 18,18-27), einmal ein Gesetzeslehrer (Lk 10,25). Beide stellen die Frage aus dem Wunsch heraus, lebendiger zu werden und über den Tod hinaus lebendig zu bleiben. «Ewiges Leben» steht für sie für die Sehnsucht, das Leben in Fülle zu haben – im Jenseits, aber auch im Diesseits, denn dieses Leben hat keinen Anfang, kein Ende und wird durch keinen Tod beschränkt.
Die beiden Gespräche zwischen Jesus und den Fragern entwickeln sich jeweils unterschiedlich: Der reiche Jüngling wird aufgefordert, seinen ganzen Reichtum wegzugeben. Der Gesetzeslehrer wird zuerst an die Gebote erinnert und dann erzählt ihm Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter.
Die Frage bekommt also bereits in der Bibel unterschiedliche Antworten. Beiden Antworten ist aber gemeinsam, dass sie sich erstaunlicherweise nicht auf der Ebene von Sünde und Vergebung bewegen. Die Beziehung zwischen Gott und den Fragern ist nicht unterbrochen. Da läuft nichts falsch. Sie sind in Gott und mit ihm. Trotzdem ist da aber mehr Sehnsucht nach Lebendigkeit.
Die Antworten bewegen sich auf der Ebene der Sorge um die Armen, Schwachen, Kranken und Verletzten: Die Hingabe an die Not der Mitmenschen macht lebendig.
Der reiche Jüngling ist mit der Antwort erst mal überfordert und wird traurig und geht weg. Was er dann am Ende tut, wissen wir aber nicht. Jesus hält offen, dass alles möglich ist. Ebenfalls beim Gesetzeslehrer: Was er von der Geschichte in sein Handeln umsetzt, wird nicht erzählt. Und das ist gut so. Diese weise Offenheit der Bibel erinnert daran, dass diese Frage eine individuelle Antwort finden muss.
«Was muss ich tun, damit ich durch und durch lebendig werde?» Für die Einen heisst es vielleicht, die Stille zu pflegen und die ganze Not der Welt im Herzen zu vereinen, zu wandeln und stellvertretend zu hoffen. Für andere heisst es, im nahen Umfeld für andere da zu sein. In Familie, Beruf und freiwilligen Engagements gibt es unzählige Möglichkeiten, aus dieser inneren Haltung der Hingabe zu handeln. Wer Einfluss, Macht und Geld hat, findet seine Lebendigkeit im Einsetzen dieser Mittel zum Wohle der Menschheit. Die eigene Lebendigkeit wächst in dem Mass, in dem die Lebendigkeit der Umgebung wächst. Eine individuelle Antwort auf diese Frage heisst also gerade nicht, dass es bei einer Nabelschau bleibt, sondern dass aus der Verbundenheit mit jedem Menschen, jedem Lebewesen und der ganzen Schöpfung und dem göttlichen Urgrund die gelebte Antwort eine Liebeserklärung an die Krisengeplagten, Kranken, Schwachen und Verarmten wird.
Man kann, wird ein solcher Anspruch formuliert, leicht in Stress geraten oder einem Moralismus verfallen. Das ist vielleicht dem reichen Jüngling passiert, als er hörte, wie sein Weg zur Lebendigkeit aussehen würde. Doch auch das gilt es loszulassen, denn das eigene Handeln ist das, was an Antworten auf die Nöte dieser Welt in mir selbst geboren wird. Der kontemplative Weg hilft zuzulassen, dass die eigene Lebendigkeit aus Gott, das heisst aus der eigenen unendlichen Tiefe, ersteht, oder wie Meister Eckehart es sagt:
Gott und ich, wir sind eins
Er wirkt, und ich werde
Dieses Werden ist unendlich weit, unendlich lange und unendlich gross:
Im Innersten und Höchsten der Seele
Erschafft Gott diese ganze Welt.
Alles, was vergangen ist, und alles, was gegenwärtig ist, und alles was zukünftig ist, das schafft Gott im Innersten der Seele.