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Was ist, was kann, was will die via integralis?

Regula Tanner und Markus Heil im Gespräch mit Niklaus Brantschen zum Thema der Jahresversammlung am 19.01.2021

Regula: Wir schauen an diesem Wochenende zurück auf unsere Geschichte und verbinden uns mit den Wurzeln der via integralis. Du, Niklaus, hast zusammen mit Pia Gyger 2004 die via integralis ins Leben gerufen. Damals startete der erste Lehrgang. Nun bist du hier – 15 Jahre später – auf unserer Jahresversammlung, zusammen mit 50 Lehrerinnen und Lehrern aus vier verschiedenen Lehrgängen – und das in einer aufregenden Zeit: rundum ist die Welt in Aufruhr durch einen Virus und politisch – so sieht es aus – bleibt kein Stein mehr auf dem andern. Was beschäftigt dich in dieser Zeit?

Niklaus: Regula, danke dir für diese Frage. Bevor ich jedoch darauf eingehe, möchte ich zu deinem Stichwort Wurzel und Ursprung und zum Titel eurer Tagung etwas sagen. Du hast zu Recht gesagt, der ursprüngliche Titel war, „was kann, was will die vi“ und gestern im Vorgespräch haben wir dann noch hinzugefügt: „Was ist die via integralis?“ Und da sage ich: Die via integralis seid ihr! Sie steht und fällt mit den Menschen, die sich auf diesem Weg „via“ der Integration bewegen. Die Wurzeln der Idee, die liegen lange zurück. Schon in den 80-iger Jahren haben Pia und ich am Strand von Kamakura/Japan, am Meer spazierend, uns darüber die ersten Gedanken gemacht. Und ich finde es schön, dass wir die Wurzeln bedenken. Denn es gibt das schöne Wort bei Paulus „Nicht du trägst die Wurzel, die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18). Das bezieht sich zunächst auf die jüdische Tradition, auf der das Christentum ruht; und das bezieht sich bei uns auch auf die Tradition des Zen, die uns vom Osten geschenkt ist und die uns prägt, in der wir verwurzelt sind. Später in den 2000-er Jahren haben wir dann diese kleine Schule mit so grosser Hoffnung gegründet.
Jetzt zu deiner Frage im Blick auf heute. Was beschäftigt mich in dieser Zeit? Mir scheint, es ist wirklich ein Leben im Provisorium, eine Hängepartie, nenne ich das. Man weiss nicht, was noch kommt. Und das positiv formuliert, das Virus hilft uns, so zu leben, als lebten wir nicht, so zu planen, als planten wir nicht, so uns auf die Zukunft hinzubewegen, als bewegten wir uns nicht.
Dieser Gedanke stammt von Paulus, aber er ist auch in andern Traditionen bekannt, ich denke an inschallah – also so Gott will oder im Jakobusbrief: „Sage nicht, ich werde dies oder jenes tun, sondern: wenn Gott will, werden wir noch leben und dann dies und jenes tun…“ (Jak 4,15) – kurz gesagt: Provisorium, leben ohne zu wissen, wo das hinführt, planen ohne zu wissen, ob die Pläne so, wie wir das gerne hätten, realisierbar sind. Das ist heilsam.

Ich denke in letzter Zeit öfters an Bernie Glassman, der Pia und mir Inka Shômei1 gegeben hat. Bei ihm ist eine der 3 Essenzen des Zen das „Not knowing“, das Nichtwissen. Ich verstehe heute immer mehr, was das heisst. Es ist nicht das Noch-Nicht-Wissen, ich werde es wissen, wenn ich mehr studiere. Sondern es ist ein radikales Nicht-Wissen. Es geht um eine Erfahrung, nach der man unterscheiden lernt, zwischen Sicherheit und Gewissheit. Ich bin mir gewiss, dass es gut ist – aber ich bin mir nicht sicher. Ich bin nicht sicher, wie es weitergeht – aber ich habe die Gewissheit und jetzt christlich gesprochen die Heilsgewissheit, oder Zen-mässig, dass es gut ist, wie es ist:
Ja, es ist gut! Jeder Tag ein guter Tag, nicht nur das: auch jeder halbe Tag und jede Stunde und auch diese Stunde. So gesehen ist es eine Chance genau das zu lernen, was es heisst „ich weiss nicht, aber ich habe eine Gewissheit“. Diese Gewissheit sollten wir leben und ausstrahlen.

Regula: Hast du den Eindruck, die Welt – oder wir: lernen wir etwas aus dieser Krise? 

Niklaus: Ich versuche, etwas zu lernen. Die grosse Welt, ja, wenn es schmerzvoll genug ist, wenn es ans Lebendige geht, dann kann allenfalls etwas eingeübt, gelernt werden. Aber im Allgemeinen lernen wir nur, wenn wir es auch tun. Also was jetzt in dieser sogenannten Corona-Zeit praktiziert wird, Homeoffice, weniger Fliegen, weniger Herumreisen, das wird gleichsam eingeübt für die Zukunft. Ja; ich kann mir vorstellen, dass etwas von dem nachher auch bleibt. Wer weiss? 

Regula: Also wenn ich dir zuhöre, dann sagst du, die Welt muss lernen, wieder bescheidener zu werden im Umgang mit den Ressourcen. Oder gibt es noch mehr, was uns diese Krise vielleicht lehren kann?

Niklaus: Das eine habe ich schon gesagt, dass das Planen nicht bedeuten soll, alles inklusive der Zukunft im Griff zu haben. Wenn uns jemand vor einem Jahr gesagt hätte, wie komisch wir jetzt da unterwegs sind, nicht wie geplant in Wislikofen, sondern virtuell jeder zu Hause vor seinem Bildschirm sitzend, dann hätten wir gesagt, geht’s dir noch. Aber an solche Unsicherheiten und Unwägbarkeiten werden wir uns gewöhnen müssen; und wer weiss, wovor wir uns in Zukunft noch schützen müssen. Es ist nicht absehbar. Und insofern kann ich nur sagen, bleiben wir offen und verlieren wir das Hoffen nicht, offen und hoffen.

Markus: Niklaus, ich möchte auf das Verhältnis der via integralis zu den christlichen Kirchen zu sprechen kommen. Nicht wenige von uns beschäftigen sich beruflich oder ehrenamtlich in der Kirche, zahlreiche Kontemplationsgruppen treffen sich in kirchlichen Räumen. Das Verhältnis ist nicht immer einfach. Es erinnert an alte Konflikte, welche die Mystik in der Amtskirche immer wieder ausgelöst hat. Wie siehst du heute dieses Verhältnis zwischen Stille und kirchlich organisiertem Glauben? Wie bist du damit umgegangen? 

Niklaus: Ein wichtiger Schlüssel liegt in der Information und Transparenz. Ich kann nur sagen, meine Politik gegenüber meinem Orden war: Informieren, informieren, informieren. Zum Beispiel: Wenn ich im Sommer in Japan war, habe ich immer einen ausführlichen Brief an die Mitbrüder in der Schweiz geschrieben, habe genau informiert, was ich tue, was wir dort tun, was an Begegnungen möglich ist. Ich habe die Jesuiten miteinbezogen. Später habe ich Pater Lassalle nach Schönbrunn eingeladen, immer im Januar jeweils für 2 Wochen. Er hat in unserer Jesuiten-Kommunität gewohnt. Die Begegnung mit ihm und meine Informationen haben Angst abgebaut. Angst entsteht da, wo man nicht weiss, was alles gemacht wird. Und an einem bestimmten Punkt habe ich gemerkt, ich kann nicht erwarten, dass sie meine Projekte unterstützen, wenn sie nicht abgeholt werden, da wo sie sind. Wir können vor allem eins: den Leuten sagen, kommt und seht! Und wenn sie nicht kommen und schauen, informieren wir wenigstens, so machen wir’s… und dann braucht es auch etwas Charme! Mit einem Lächeln, nicht stur, den eigenen Weg gehen, den Weg der Integration. Wir geben ihnen zu verstehen, ihr seid ja wirklich blöd, wenn ihr dieses wunderbare Instrument des Sitzens in Stille nicht aufnehmt.

Regula: Niklaus, wir waren vorher schon kurz mit dir am Strand von Kamakura. Was bedeutet dir Japan?

Niklaus: Japan ist buchstäblich das Land der aufgehenden Sonne! Wenn ich mich jetzt an Japan erinnere, dann kommt das schöne Land zuerst. Ein Aufstieg in der Nacht auf den Fuji, um den Sonnenaufgang zu erleben. Zusammen mit einem Freund waren wir die ganze Nacht unterwegs  und kamen bei Sonnenaufgang auf dem Gipfel an. Und dann zu sehen, wie die Japaner beim Shintô-Schrein mit gefalteten Händen die Sonne begrüssten, da wurde mir deutlich, warum die Japaner die Sonne im Wappen haben, diese rote Kugel, und warum sie shintoistisch geprägt sind, ganz eng verbunden mit der Natur. Oder ich erinnere mich an Nikko, diese wunderschöne Stadt nördlich von Tokyo. Es gibt ein Sprichwort: „Sage nicht nekko, bevor du Nikko gesehen hast“. Sage nicht schön, bevor du Nikko gesehen hast. Die Erinnerung an den Nationalpark von Nikko, wo Pia und ich mit dem letzten Geld, das wir hatten, wunderbar Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti gegessen haben, und wir festgestellt haben, die Japaner sind Meister im Kopieren; sie kopieren alles, von der westlichen Küche bis zu den Produkten der westlichen Industrie. Das fällt mir ein. Und wenn ich jetzt umgekehrt schaue, was wir in Japan über diese wunderbare Natur hinaus gelernt haben, dann ist es der Weg der Stille und die Kultur der Stille, wie es Graf Dürkheim formuliert hat, die in Japan wirklich gefährdet ist. Yamada Roshi, unser Lehrer, hat gelegentlich gesagt, in Japan stirbt das Zen, es wird aber verändert durch Amerika und Europa wieder zurückkehren. Also mit andern Worten, wir können das Zen von Japan lernen, aber wir müssen es nicht 150 prozentig japanisch machen, sondern können es in westlicher Weise tun. Zum Beispiel müssen wir nicht immer schon um 4 Uhr aufstehen, wenn wir eine Zen-Woche machen, es genügt vielleicht auch erst um halb 6Uhr. 

Regula: Dennoch stellt sich die Frage, wie viel Japan braucht die via integralis?

Niklaus: Wenn wir uns darauf besinnen, was Zen in seinem Kern meint, dann ist es die Übung, das Sitzen in Stille:  ohne Worte, ohne Begriffe, jap.: munen muso und an diesem Punkt dürfen wir keine Abstriche machen. Wir sind keine via integralis, wenn wir dieses Herzstück der Zen-Meditation nicht ernst nehmen! Das war eine Diskussion – ich kann mich sehr gut erinnern – bei der Konzeption der via integralis, ob wir das Herzensgebet, das ich einige Zeit intensivst praktiziert habe, für die via integralis als Element dazu nehmen sollen. Und wir sind zur Überzeugung gekommen, nein. Die via integralis verbindet Zen mit christlicher Mystik, und wenn Zen, dann Zen und wenn Sitzen, dann Sitzen und wenn Schweigen, dann Schweigen, und wenn ohne Begriffe, dann eben ohne Begriffe, da gibt’s keine Abstriche. Da bin ich inzwischen noch klarer als früher. Also nicht ein bisschen Sitzen und ein bisschen Denken.
Ich habe für die Zeitschrift „reformiert Punkt“ ein Interview gegeben, und sie wollten wissen (die Reihe heisst „der andere Blick“), was ich denn „sehe“ im Zen. Und ich gab zu Protokoll: „Ich sehe mit offenen Augen Nichts!“ Dieses Nichts ist unaufgebbar, also nicht ein bisschen denken, denn ein bisschen denken, ist halt doch denken. Ein bisschen schwanger ist schwanger. Also „NICHTS“ – aber das mit ganzem Herzen.

Markus: Kannst du, Niklaus, noch etwas über dein neuestes Buch sagen. 

Niklaus: Das neueste Buch trägt den Titel „Gottlos beten“ und wird im Herbst bei Patmos erscheinen. Es geht aus von folgender Begebenheit. Ich hatte einen Vortrag in Zürich für einen Wirtschaftsklub über Meditation, viele Jahre sind das her. Am Schluss fragte ein Anwesender: „Kann ein Atheist meditieren?“ Und ich sagte, ja, er kann. Entweder hört er auf zu meditieren oder er hört auf Atheist zu sein.
Diese Frage hat mich auch im Blick auf den Buddhismus immer wieder beschäftigt: können Buddhisten beten und wenn ja, wie tun sie das? Sie beten nämlich, wenn ich sehe, wie sie sich vor dem grossen Buddha in Kamakura verneigen, still stehen oder in einem Tempel am Boden sitzen… sie beten einfach anders als wir, aber wie? Das ist das Thema des Buches. 
Dazu ein weiteres Beispiel, damit es konkret wird: Albert Camus Roman „Die Pest“. Ein Buch, das in der Pandemie während der ersten Welle wieder neu entdeckt wurde, weil es genau beschreibt, was bei einer Pandemie, hier ist es die Pest, konkret in einer Stadt in Algerien geschieht: die Unsicherheit, die Unmöglichkeit, Leute anständig zu beerdigen mit der nötigen Ruhe, die Überforderung der Ärzte und Pfleger. Der Roman gipfelt in der Aussage des Protagonisten: Wie kann ich ein Heiliger sein ohne Gott? Und er wird dann gefragt: Wie kannst du so viel Gutes tun, ohne an Gott zu glauben? Und die Antwort war: Weil ich Mensch bin.
Mit ähnlicher Intention fordert der Dalai Lama von den Religionen mehr Ethik. Es gibt inzwischen mindestens 1 Milliarde Menschen, die im religiösen Sinn überhaupt nicht glaubt. Wie erreiche ich sie und wie motiviere ich diese Menschen, ein ethisch fundiertes Leben zu gestalten und zu leben?
Mein neues Buch richtet sich vor allem an Menschen, die nicht wissen, „wo Gott hockt“, und die auch nicht den andern sagen, wo Gott hockt. Ich wende mich an Suchende, die sich engagieren, zum Beispiel für die Umwelt, weil für sie die Natur, die Welt, die Leiden der Kreatur einen „heiligen“ Charakter haben, aus dem heraus sie handeln… Das Buch wird 5 Teile haben und geht aus von einem alten Wort: ars orandi, ars credendi. D.h. so wie ich bete, so glaube ich. Und ich führe das weiter: so wie ich glaube, so lebe ich, so wie ich lebe, so sterbe ich. Am Schluss gibt es dann noch ein Kapitel über die Liebe. Das Buch wird im Herbst im Patmos-Verlag erscheinen.

Regula: Niklaus, noch eine letzte Frage: wir sind mit dir zum Ursprungsimpuls zurückgegangen. Die via integralis ist in der Zwischenzeit gewachsen und hat sich weiterentwickelt. Du siehst, uns ist diese Verbindung zur Wurzel wichtig und sind dir sehr dankbar, dass du heute bei uns bist. Pia und du, ihr habt immer wieder gesagt, die via integralis sei „euer liebstes Kind“. Dieses hat inzwischen allerdings die Kinderschuhe ausgezogen und ist heute ein Verein mit ca. hundert Lehrenden und mehreren hundert Menschen, die mit uns regelmässig meditieren. Wir sind gross geworden und eigenständig. Was möchtest du diesem nun erwachsen gewordenen Kind mit auf den Weg geben?

Niklaus: Was geben Eltern den Kindern mit auf den Weg? Wenn du so fragst, was möchte ich unserem „Kind“, dem Kind von Pia und mir, mitgeben, dann antworte ich spontan: „Mein Sein“. Die Art und Weise, wie ich lebe oder versuche zu leben. Das heisst, mich immer wieder aufzurappeln. Es sind jetzt grade 3 Jahre her, dass ich einen massiven medizinischen Eingriff hatte und mich dann langsam, langsam, langsam wieder zurückholen musste in das aktive Leben. Dieser Geist und die Bereitschaft zum steten Wiederanfangen, dieses Dabei-Bleiben und immer wieder neu anfangen, immer wiederholen und dabei bleiben…
Eine weitere Anregung verdanke ich einer russischen Ärztin, welche Astronauten nach ihrer Rückkehr aus dem All betreute. Sie sagte, laufe, und wenn du nicht laufen kannst, dann gehe, und wenn du nicht gehen kannst, dann krieche, aber bewege dich. Dieses Wort möchte ich für uns abwandeln und sagen: Sitze, Sitze auf dem Kissen und wenn du nicht auf einem Kissen sitzen kannst, dann sitze auf einem Schemel und wenn du nicht auf einem Schemel sitzen kannst, dann sitze auf einem Stuhl, aber sitze! Das ist das A und O. Im Sitzen „setzt sich so manches“ und bekommt seinen richtigen Platz; was wirklich wichtig ist, das zeigt sich, und das andere fällt weg.
Schliesslich: hört auf eure Lehrer, ihr habt gute Leiter und gute Lehrer. Ich finde es sehr schön, dass in der via integralis das Zen auf ihrem Weg heute und auch in Zukunft präsent ist. Also: Tut das Eine, sitzt Zazen und vernachlässigt nicht das Andere: seid als Christen (mit Christus?) auf dem Weg.

Regula: Niklaus, ganz herzlichen Dank. 

1 Inka Shomei, das «Siegel  der  Bestätigung», ist der Name der Zeremonie, mit der ein neuer/eine neue  Zen-Meisterin  eingesetzt  wird. Es  bedeutet die Übertragung der vollen Lehrbefugnis  als eigenständige und unabhängige Zen-Meister. Diese schließt die Kompetenzen, selber Zen-Lehrende zu ernennen, Zen-Meister/innen  als Nachfolger zu bestätigen und, wenn gewollt, eine  eigene Zen-Linie zu begründen.

Fragen aus dem Plenum

Regula: Niklaus, es gibt grosses Interesse an deinem neuen Buch „Gottlos beten“. Dazu u.a. die Frage: Sollen wir im säkularen Raum das Bruder-Klaus-Gebet beten? Wie geht das? Das Gebet geht eindeutig von einer personalen Gottesbeziehung aus. Wie können wir Menschen in die Stille begleiten, die keine Gottesbeziehung haben? Oder anders gefragt: gottlos dankbar sein, geht das wirklich oder ist das nicht ein bisschen geschummelt?

Niklaus: Zur letzten Frage: Gottlos dankbar sein – wie geht das? Thich Nhat Hanh, den ihr alle kennt, ist jetzt grade 94 Jahre geworden. Er berichtet in seinem Buch „Lebendiger Christus – lebendiger Buddha“ von einem Gespräch bei einem Kongress über Religion und Frieden, wo er u.a. über die Bedeutung der Dankbarkeit zu sprechen kam. Daraufhin sprach ihn ein evangelischer Pfarrer an: Aber sie können ja gar nicht dankbar sein, sie glauben ja nicht an Gott. Verblüfft antwortete  Thich Nhat Hanh: „Und ob ich dankbar sein kann“, und zählt auf, wofür er alles dankbar ist: für jeden Bissen Reis, für die Natur, für die Pflaumenblüten in Plumvillage in Südfrankreich usw. Und dann resümiert er „Ich bin so dankbar, ich weiss gar nicht, warum er sagt, ich kann nicht dankbar sein“.
Dahinter steckt die Frage, gibt es eine echte Beziehung zu jener Wirklichkeit, die wir Gott nennen und mit Du ansprechen. Wie ist die Beziehung zu dieser Wirklichkeit, wenn ich dankbar bin, ohne den Adressaten zu benennen? Ist das weniger dankbar? Ist es nicht vielleicht radikales Dankbarsein auf eine Wirklichkeit hin, die grösser ist als mein Du, die Vorstellung von einem Du? Da fängt die Diskussion an.
In der Praxis, würde ich sagen, das Bruder-Klaus-Gebet selbstverständlich beten! Wenn ich eine Messe lese, sage ich „Du mein lieber Gott“. Ich habe es bis jetzt, obwohl das manche wünschen, noch nicht geschafft, eine Messe zu feiern, ohne das Wort „Gott“ und „Du“ zu gebrauchen. Und das mache ich von Herzen. Ich sage, Du mein Gott, nimm alles von mir… aber wie ist das? Wir werden hineingenommen in dieses Geheimnis, das wir Gott nennen. Und dann dürfen wir nicht zu bescheiden sein und sagen, Gott ist der Grosse und ich bin der/die Kleine. Eigentlich müssen wir da nochmals über die Bücher und in unser Herz hineinhorchen und wissen, was es heisst, Ihr seid das Licht der Welt, nicht Ihr empfängt das Licht der Welt, sondern Ihr seid das Licht der Welt. Und Ihr seid Christus, ein anderer Christus. 

Also: Ich würde nicht zögern, dieses Gebet zu beten, und gleichzeitig sagen, das ist eine Tradition. Im Grunde wissen wir ja, es ist mehr als ein mir vorgestelltes Gegenüber. Darum würde ich keine Hemmung haben, das zu beten, und die Menschen werden mit beten oder nicht, genauso wie ich eben munen muso – ohne Worte, ohne Begriffe – sitze. Das Eine tun und das Andere nicht lassen. Also nicht alles aufgeben oder nicht mehr wagen, ein Vater unser zu sprechen oder das Bruder-Klaus-Gebet. Dann ist keine Integration mehr möglich. Aber mein Beten verändert sich mit der Zen-Praxis und gibt mir eine grosse Freiheit. Sie macht es mir auch möglich, Gott mit Du anzusprechen.

Regula: Was ist der Kerngedanke der vi, den wir Interessierten als Erstes mitgeben sollten? 

Niklaus: Das eine ist das Hören, das andere ist die Begegnung, die Praxis, die Einladung „kommt und seht“. Es gibt von Mutter Theresa in Kalkutta nicht nur Schwestern, sondern auch Brüder, Brothers of Charity. Die Novizen dort heissen ganz einfach „come and see“. Es gibt ein Gedicht von Brecht „Der Zweifler“ aus dem Jahr 1937, wo er sagt: „wie handelt man, wenn man Euch glaubt, was ihr sagt“. Dann sind es die Früchte, an denen man sie erkennt, also die Früchte zählen. Wir sollten nicht so sehr über die Wirkungen der via integralis predigen, sondern sie leben und die Leute einladen mitzumachen, sie da abholen, wo sie sind und dann schauen, was passiert. Es ist das Beispiel, die Überzeugung, die zählen. …

Regula: Einige unter uns machen Kontemplationsangebote in Altenheimen. Hast du da Erfahrungen? 

Niklaus: Ja, grundsätzlich, ob alt oder nicht – wir haben jahrelang in einem Gefängnis in Zürich mit Gefangenen und einer Gruppe von auswärts meditiert. Ich zitiere gerne Yamada Roshi, der uns immer wieder eingeschärft hat: „fitting to the situation“ – es muss zur Situation passen. Mit einem Kind muss ich auf kindliche Weise präsent sein, mit Pubertierenden auf pubertierende Weise, mit Menschen, die verliebt sind, auf ihre Weise, ich finde es immer wieder schön, wenn Menschen verliebt sind und heiraten wollen, die Freude spüren und sich freuen an ihrer Freude. Und jetzt bei alten Menschen, das weiss ich nicht. Doch, ich müsste es wissen, ich gehöre ja auch dazu. Ich meine: angemessen die Situation spüren, wie fühlen sie sich, können sie noch aufrecht sitzen, müssen sie anlehnen oder vielleicht auch liegen und so auf den Atem achten. Also ganz der Situation angemessen, und den Menschen – in diesem Fall den alten, vielleicht gebrechlichen Menschen – nahe sein. Im bereits erwähnten Buch „Die Pest“ von Camus wird geschildert, wie der Arzt einen Jungen, der sterben muss, retten will:  Er wird eins mit dem Atem des Jungen, er versucht ganz eins zu werden mit dem Jungen und ihn so am Leben zu halten. Und so ist es auch hier: ganz eins werden. Wir kennen zwar, wir sind immer eins mit allem. Aber hier wird’s konkret.

Regula: Eine Frage an dich in deiner Rolle als Gründervater und Zenmeister. Wir kommen bei der Praxis des Zazen immer wieder in die Situation, über buddhistische Texte zu reden bzw. sie zu zitieren oder rezitieren. Wie sollen wir mit diesen Texten umgehen? Was sind unsere Kompetenzen als vi-Lehrer, wenn wir keine Zen-Lehrer sind? Es gibt einzelne, die beides sind. Aber für uns alle: was ist da zu beachten?

Niklaus: Eher zurückhaltend sein. Sitzen ja, wirklich und aus ganzem Herzen. Aber mit den Texten – da wäre ich zurückhaltend. Nicht zu viel Zen-mässiges Ritual machen… Ähnlich würde ich zurückhaltend sein mit den Texten. Man kann in der Unterweisung einmal auf einen Text Bezug nehmen oder das Lied auf Zazen genauer anschauen, meditieren und interpretieren, vielleicht auch mal rezitieren, aber nicht unbesehen einsetzen, um „attraktiver“ zu sein. Die Gongs sind auch gut, auch attraktiv. Es ist halt immer noch so, dass Zen hier in unsern Breitengraden mehr zieht als Kontemplation oder eine rein christliche Übung. Also: ich würde es mit Vorsicht geniessen, und dann muss es ganz stimmen und gefüllt sein. Aber keinesfalls so als Etikett brauchen. 

Regula: Du hast vorhin auf die Frage, was du uns mitgeben möchtest, gesagt, die Art und Weise wie ich lebe, mein Sein. Kannst du dazu zum Abschluss noch etwas mehr sagen? 

Niklaus: Ich lade alle ein, einen Moment aufrecht zu sitzen, auf den Atem zu achten und einfach nur zu sein. Stillzusitzen, ohne mich zu bewegen. Ich bin wichtig noch bevor ich etwas tue, ich darf sein. – Und wenn ich einen Gong hätte, würde ich ihn jetzt anschlagen. Gong!

Regula: Niklaus, ganz herzlichen Dank. 

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