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Amin aus Afghanistan – Leben zwischen zwei Welten

von Gabi Schröder

Meine erste Begegnung mit Geflüchteten war Anfang 2016. In unserer Nachbargemeinde Eschbach mit knapp 2500 Einwohnern war im Zuge der grossen Zuwanderung von Asylsuchenden Ende 2015 eine Gemeinschaftsunterkunft mit bis zu 1000 Bewohnern errichtet worden. Für den kleinen Ort war das eine sowohl organisatorische als auch strukturelle Herausforderung. Gleichzeitig gab es ein grosses Engagement in der Gemeinde. So entstanden Flüchtlingshelferkreise, die in Zusammenarbeit mit den Sozialarbeitern und der Verwaltung wertvolle Arbeit leisteten. Unter anderem entstand auch in unserer Gemeinde Heitersheim eine Initiative für Deutschunterricht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, wo auch ich mitarbeitete. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Stunde: Ein kleiner Behelfsraum mit einem Dutzend junger Männer aus verschiedenen Ländern, voller Energie, Neugier und Emotionen. Ein Sprachgewirr und ein lebendiges Chaos. Später sagte einer der Jungs zu mir, er habe noch nie so viele alte Menschen auf Fahrrädern gesehen wie in Deutschland. In Ländern, deren Einwohner eine Lebenserwartung von durchschnittlich sechzig Jahren haben, ist eine Sechzigjährige auf dem Fahrrad durchaus ein Ereignis.

Staatlich finanzierte Integrationskurse wurden nur für Menschen mit guter Bleibeperspektive, d.h. zum Beispiel aus Syrien, Irak, Iran und Eritrea angeboten. Hingegen hatten Menschen aus Afghanistan keine Aussicht auf einen bezahlten Sprachkurs. Deshalb begannen wir, im Gemeindezentrum von Heitersheim, kostenlose Deutschkurse für Geflüchtete anzubieten. Unser Ziel war es, durch den Deutschunterricht ihre Chancen für eine spätere Integration und den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verbessern. Ausserdem war unser Deutschtreff, in dem ein Dutzend ehrenamtliche Deutschlehrende halfen, eine Möglichkeit zum Austausch und eine Abwechslung zum eintönigen Leben im Camp. Sehr schnell entstanden gute Beziehungen und auch Patenschaften unter den Lehrenden und Schülern. 

Hier lernte ich Amin kennen, einen jungen Mann, 35 Jahre, aus Afghanistan, der Mitte 2015 nach Deutschland gekommen war und mit anderen zusammen in einem Vierbettzimmer in der Gemeinschaftsunterkunft lebte. Amin wurde in einem Dorf in der Provinz Ghazni südwestlich von Kabul gross. Seine Eltern starben sehr früh und er wuchs bei einem Onkel auf. Er hat keine Geschwister, was in Afghanistan eine Besonderheit ist. Da es weder Krankenversicherung noch Altersvorsorge gibt, kommt der Familie eine grosse Bedeutung zu. Sie schützt den Einzelnen und sorgt auch für die Schwächeren. Entsprechend ist es in Afghanistan praktisch unmöglich, allein ohne den Rückhalt der Familie zu überleben.

Mit 25 heiratete Amin und lebte mit seiner Frau und dem kleinen Sohn in Ghazni. Als selbständiger Subunternehmer hatte er einen kleinen Handwerksbetrieb mit mehreren Mitarbeitern und arbeitete auch für staatliche und internationale Unternehmen. Durch diese Tätigkeit kam er ins Visier der Taliban. Amin gehört zur Volksgruppe der Hazara, einer schiitischen Minderheit in Afghanistan. In den Provinzen greifen sunnitische Taliban die Dörfer der Hazara an, in der Hauptstadt Kabul werden Hazara vor allem von Kämpfern des «Islamischen Staates» attackiert, die ebenfalls Sunniten sind. Durch ihre äusserlich erkennbare ethnische und konfessionelle Zugehörigkeit waren und sind Hazara schon immer sehr exponiert. Einmal, so erzählte mir Amin, wurde er in Freiburg i.Br. von einer Gruppe chinesischer Touristen freudestrahlend begrüsst, da sie in ihm einen Landsmann vermuteten. 

Aufgrund seiner Tätigkeit für internationale Unternehmen wurde Amin zuerst bedroht und dann 2014 bei einem Überfall durch die Taliban schwer verletzt. Aus Angst vor weiteren Angriffen entschloss er sich nach einem langen Krankenhausaufenthalt zu fliehen. Da sein Sohn damals noch ein Kleinkind und die Flucht für Frau und Kind zu gefährlich war, wollte er beide später zu einem sicheren Zeitpunkt nachkommen lassen. Heute ist sich Amin unsicher, ob diese Entscheidung richtig war – und ich glaube, dieser Zweifel lastet schwer auf ihm. Leider erwies sich der Familiennachzug als problematisch, da sein Asylantrag vom Bundesamt für Migration abgelehnt wurde. 

Zu diesem Zeitpunkt lernte ich Amin näher kennen. Im Deutschtreff war es üblich, dass die Schüler und Schülerinnen auch mit ihren Anträgen und Behördenschreiben kamen. So erfuhr ich von der Ablehnung des Asylantrags und wir wendeten uns an eine auf Asylrecht spezialisierte Anwältin. In stundenlangen Sitzungen mit einem Übersetzer musste Amin die traumatischen Ereignisse Schritt für Schritt rekonstruieren und in einen zeitlichen Ablauf bringen, was eine grosse seelische Belastung für ihn bedeutete. Aber auch die Klage vor dem Verwaltungsgericht scheiterte, trotz monatelanger intensiver Vorbereitung und ausführlicher Klagebegründung. Amin stand unter einer so grossen inneren Anspannung und Aufregung, dass er die Fragen des Richters nur unvollständig beantwortete, was ihm letztlich als Unglaubwürdigkeit ausgelegt wurde. Das bedeutete, das Amin ab 2020, dem Zeitpunkt des Gerichtsentscheids, den Status der Duldung hat, einem nur vorläufigen Bleiberecht ohne Anrecht auf Familiennachzug. Die psychosoziale Beratungsstelle Refugium in Freiburg schätzt, dass ungefähr die Hälfte aller seelischen Erkrankungen der geflüchteten Menschen zurückzuführen sind auf ihren unklaren Bleibestatus und die ständige Angst vor einer Abschiebung. 

Amins Frau und sein kleiner Sohn leben seit Amins Flucht, gemeinsam mit einem älteren Familienangehörigen, dem Onkel der Frau, im Verborgenen, da auch sie sich bedroht fühlen. Die nun über sechsjährige Trennung von der Familie lastet schwer auf Amin. Telefonische Kontakte sind selten und kurz, da seine Frau kein Mobilfunkgerät besitzt und auf die Hilfsbereitschaft der Nachbarn angewiesen ist, die ihr ab und zu eines leihen. Nach den Gesprächen ist Amin meist bedrückt. Er sagt dann, sein Kopf sei kaputt, weil seine Frau nicht versteht, warum sie so lange warten muss und warum er seine Familie nicht nach Deutschland holen kann. Die behördlichen Hürden und das Verwaltungssystem sind nicht in einem kurzen Telefongespräch zu erklären, da die afghanische nicht mit der deutschen Verwaltung vergleichbar ist. Zahlreiche Menschen geben dort einen beträchtlichen Teil ihres Jahreseinkommens in Form von Bestechungsgeldern aus. 

Tagsüber gelingt es Amin, so gut es geht zu verdrängen. Er wirkt trotz der grossen inneren Anspannung gefasst. Aber nachts liegt er oft wach und seine Gedanken und Ängste lassen ihn nicht schlafen. Seit drei Jahren hat er eine unbefristete Stelle als Maschinenführer, und sein Arbeitgeber ist sehr zufrieden mit seiner Arbeit. Unbefriedigend ist nach wie vor seine Wohnsituation. Er wohnt noch in einer städtischen Unterkunft in einer Dreizimmerwohnung, die er sich mit fünf anderen Bewohnern teilt. Jeweils zwei Bewohner sind in einem kleinen Zimmer untergebracht, und durch die Schichtarbeit ist das Zusammenleben sehr unruhig und beengt. Eine erholsame Nachtruhe oder eine Privatsphäre gibt es unter diesen Umständen nicht. Generell gestaltet sich die Suche nach einer bezahlbaren Wohnung für geflüchtete Menschen schwierig. 

In seiner Freizeit versucht Amin, sich aufs Deutsch lernen zu konzentrieren oder er trifft sich mit deutschen Kollegen oder Freunden aus Afghanistan, die er in der Sammelunterkunft kennengelernt hatte. Wir sehen uns nach wie vor regelmässig am Wochenende. Die vielen Stunden Deutschunterricht, aber auch die tagelangen Abklärungen und Gespräche, die wir zur Klärung seines Aufenthaltsstatus führten, haben gegenseitiges Vertrauen und Beziehung wachsen lassen. Aufgrund eines neuen, seit 1.1.2020 gültigen Gesetzes konnten wir für Amin in diesem Jahr die sogenannte Beschäftigungsduldung beantragen. Mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag und guten Deutschkenntnissen erfüllt er alle dafür notwendigen Voraussetzungen. Nach 30 Monaten wird der Übergang in eine Aufenthaltserlaubnis möglich und somit könnte er auch seine Familie nachkommen lassen. Das ist seine grosse Hoffnung, seine Motivation zum Weiterleben. 

Die Machtübernahme der Taliban im August dieses Jahres hat seine Lebenssituation nochmals vollständig verändert. Wochenlang wartete er auf ein Lebenszeichen seiner Familie und war in grosser Ungewissheit. In einem kurzen Telefonat konnte seine Frau ihm mitteilen, dass sie sich gemeinsam mit einer Nachbarsfamilie auf den Weg nach Kabul gemacht hatte. Der Onkel war zwischenzeitlich verstorben und die Nachbarn hatten ihr angeboten, sie und ihren Sohn mit nach Kabul zu nehmen. In Kabul lebte sie, wie viele andere, zuerst ohne Unterkunft auf der Strasse. Später gelang es ihr und den Nachbarn, ein Zimmer ausserhalb Kabuls zu finden. Trotz geringer Chancen machten sie sich am vorletzten Tag der Evakuierung auf den Weg zum Flughafen, angetrieben von der Hoffnung, ausfliegen zu können. Nach Abschluss der Evakuierungsmassnahmen durch die Alliierten bleibt jetzt nur noch der Landweg für eine Flucht aus Afghanistan. 

Die meisten Geflüchteten, die ich unterstütze, kommen aus Afghanistan. Da ich sie über viele Jahre begleite, teile ich ihre Sorge. Viele von ihnen haben noch Familie oder Verwandte im Land, die nun in Furcht leben. In den sozialen Medien ist das Thema sehr präsent und alle suchen in den Unmengen von Informationen einen Weg, wie sie ihren Familien beistehen und ihnen Hilfe zukommen lassen können. Leider ist es nur noch begrenzt möglich, Geld zu senden, das heisst, maximal 200 Euro. Die Banken zahlen wegen Geldknappheit nur kleine Beträge an die vielen Wartenden aus. Amin hat nach wie vor Kontakt zu seiner Frau. Und jedes Mal, wenn wir uns sehen, ist immer wieder seine Frage, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, sie nach Deutschland zu holen. Sein Leid berührt mich sehr. Es fällt mir schwer, seine Ohnmacht und meine Hilflosigkeit auszuhalten. Nach und nach lerne ich, immer neu offen zu sein für das, was gerade ist und nicht nachzulassen in meiner Präsenz und meinem Mitgefühl. Mit den Worten von Hilde Domain “Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten”.

p.s. Amin heisst in Wirklichkeit anders. Sein Name wurde zum Schutze seiner Person geändert.

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