geführt von Adrian Zimmermann im August 2021
Es ist ein warmer, sonniger Nachmittag im August. Wir treffen uns bei Sepp zuhause in Burgdorf. Wir sitzen auf der Terrasse, vor uns ein üppiger Garten, rundherum weitere Mehrfamilienhäuschen aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Nach kurzer Zeit kommt ein junges Mädchen in den Garten und fragt Sepp neugierig, wer ich sei und was ich denn hier machen würde. Es ist Milkana aus Eritrea, die zusammen mit ihrer Mutter und ihren drei Geschwistern seit viereinhalb Jahren im ersten Stock wohnt. Nach einigen Akrobatikkunststücken und weiteren Fragen gibt sie sich schliesslich zufrieden und lässt uns allein. Man merkt, sie ist hier zuhause.
AZ: Lieber Sepp, wir kennen uns schon länger, seit 2004, waren beide Zen-Schüler von Niklaus Brantschen und haben gemeinsam den ersten Lehrgang der via integralis absolviert. Wie bist du eigentlich zum Zen gekommen?
SS: Das war 1998, nachdem ich meine berufsbegleitende Ausbildung zum Sozialpädagogen abgeschlossen hatte. Nach all dem vielen Stoff hatte ich plötzlich wieder Luft. Ein Hunger nach Spiritualität stellte sich ein, und nachdem mir jemand zwei Bücher der amerikanischen Zen-Meisterin Joko Beck zu Lesen gegeben hatte, wusste ich: Jawohl – das ist es! Ich war selber überrascht, wie klar das mir mit einem Mal war. So kam ich zum Zen bei Niklaus Brantschen im Lassalle-Haus und fand dann auch eine Meditationsgruppe in Bern.
AZ: Das klingt nach einem klaren, mühelosen und leichten Entscheid.
SS: Oh nein, da gab es viel Suchen und Zaudern. Das war ein weiter Weg bis dorthin: Weisst du, ich bin im Appenzell in ganz einfachen, ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Wir lebten in einer kleinen Welt, geprägt vom katholischen Volksglauben. Für uns war damals klar, dass die Reformierten ins Fegefeuer kommen werden…
Als drittes von acht Geschwistern hatte ich das Glück, eine Lehre als Feinmechaniker machen zu dürfen. So stand ich nach der Lehre auf eigenen Beinen, arbeitete in verschiedenen Stellen in der ganzen Schweiz und genoss das Leben.
Nach einigen Jahren spürte ich aber, dass das für mich so nicht mehr stimmte, und geriet in eine Krise. So beschloss ich mit 27, einfach mal aufzubrechen und in die Welt hinauszugehen. Heute muss ich schmunzeln, wenn ich daran denke, wie ahnungslos und blauäugig ich damals aufbrach – auch in der Überzeugung: Katholischer Christ sein ist das einzig Richtige!
Ich reiste auf dem Landweg bis nach Indien, und später auch nach Südostasien und Australien. Ich besuchte viele heilige Stätten, sass oft in den Moscheen, hinduistischen und buddhistischen Tempeln und sah die unzähligen Gläubigen, wie sie voller Hingabe beteten und niederknieten. Sollten diese Menschen denn nicht gut sein? Mehr und mehr begann mein katholisches Weltbild zu bröckeln.
AZ: Dann hast du also deine interreligiöse Öffnung ganz durch eigene Anschauung gewonnen?
SS: Ja, ich habe alles durch Zu-schauen und Wahr-nehmen aufgenommen. Und dass das möglich ist, war für mich wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser Reise. Ich konnte das so erfahren und mitnehmen, ich musste nichts lesen.
Ich bin sowieso nicht der intellektuelle Typ. Wir hatten zuhause ja selten etwas gelesen und kaum Bücher. Auch keine Bibel. Die war ja dem Pfarrer zur Auslegung vorbehalten. Ich kann mich gut erinnern, einmal brachte der Vater eine wunderbare, alte Lutherbibel heim. Da sagte die Mutter klipp und klar: «Morgen ist die nicht mehr im Haus!»
AZ: Für mich als reformierten Stadtmenschen klingt das unglaublich!
SS: Nach diesen ausgedehnten Reisen arbeitete ich schliesslich viereinhalb Jahre für Interteam in der Entwicklungszusammenarbeit in Afrika. In Lesotho betreute ich die technische Intrastruktur eines ganzen Spitals, was beruflich wohl eine meiner grössten Herausforderungen war. Das ging über Warten und Reparieren von medizinischen Geräten, Generatoren und Autos weit hinaus. Das hiess auch Häuser in Stand halten; oder, ganz wichtig für ein Spital, fliessendes, sauberes Wasser bereitzustellen und je nach Jahreszeit zu rationieren oder zu speichern. Und die letzten eineinhalb Jahre ging es auch darum, das einheimische technische Personal so zu schulen und mit den nötigen Plänen zu versorgen, dass sie nach meiner Abreise den Betrieb in Eigenregie weiterführen konnten.
AZ: Und wohin führte dich deine nächste Etappe?
SS: 1989 kehrte ich dann, mit 39 Jahren, wieder in die Schweiz zurück. Allerdings war es nach 12 Jahren im Ausland nicht einfach, hier wieder Fuss zu fassen. Dennoch wusste ich, dass nun die Wanderjahre vorbei sein würden, ich hier sesshaft werden wollte und der Weg nach Innen beginnen würde. Allerdings musste ich beruflich nochmals neu anfangen. Ich begann eine berufsbegleitende Ausbildung zum Sozialpädagogen und kam so mit Psychologie und Pädagogik in Kontakt. Die neuen Fächer interessierten mich und führten dazu, dass ich erstmals in meinem Leben ein reflektierendes Bewusstsein entwickelte. Das sollte mich aber nicht davor bewahren, dass ich ein paar Jahre nach Abschluss der Ausbildung wieder in eine Sinnkrise geriet, bevor ich dann, wie eingangs erwähnt, zum Zen fand.
Zu Beginn übte ich intensiv und besuchte viele Sesshins. Dann kamen die Lehrgänge «Kontemplationslehrer via integralis» und «Hoffnung braucht neue Wege» hinzu. Mir wurde bewusst: Mystiker aller Religionen machen letztlich dieselbe Erfahrung, es unterscheiden sich allenfalls die Sprache und der religiöse Kontext. Was ich auf meinen Reisen an Anschauung gewonnen hatte, bestätigte sich nun in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen mystischen Traditionen und fühlte sich stimmig an. Nun begann ich Mystiker-Texte zu lesen … und kaufte mir schliesslich auch eine Bibel.
Nach Abschluss der via integralis erlebte ich so etwas wie einen Quantensprung in der spirituellen Entwicklung, eine unglaubliche Öffnung und neue Freiheit. Die erste Öffnung war mein Aufbruch in die Welt gewesen; die zweite Öffnung war nun der Aufbruch in die Mystik aller Religionen. Weniger durch Studium und Anhäufung von Wissen, sondern durch Anschauung und Erfahrung!
AZ: Und wie hat sich das ausgewirkt?
SS: Meine Partnerin Kathrin und ich waren damals ja beide in Sozialberufen tätig. Zugleich spürten wir, dass wir dem Sozialen auch in unserem privaten Alltag mehr Raum geben wollten. Als sie dann einen ansehnlichen Geldbetrag erben konnte und wir nach einem Haus Ausschau hielten, war für uns beide klar, dass so ein Projekt nicht nur uns zugutekommen sollte. Uns schwebte vor, damit auch einen Ort für Menschen in Krisensituationen zu schaffen, die einen Bedarf nach Auszeit hatten. Als wir dann 2008 auf dieses Haus stiessen und sahen, dass so ein Projekt hier realisierbar war, entschieden wir uns für den Kauf. Der Umbau war recht umfangreich, aber ich konnte bei vielen Arbeiten tatkräftig mithelfen. Seither haben wir in unserem Erdgeschoss eine Einzimmerwohnung integriert, die sich je nach Bedarf abtrennen lässt. Gegenwärtig wird sie allerdings von uns und unseren eritreischen «Enkelkindern» als Musik- und Spielzimmer genutzt.
Beruflich arbeitete ich 14 Jahre in der Stiftung Rüttihubelbad in einer anthroposophisch ausgerichteten sozialtherapeutischen Gemeinschaft und begleitete Menschen mit einer psychischen oder geistigen Beeinträchtigung. Nach sechs Jahren in Leitungsfunktion ging ich 2014 ein Jahr vorzeitig in Pension. Ich plante einen behutsamen Übergang in den neuen Lebensabschnitt mit einer Auszeit im Lassalle-Haus und im Fernblick. Doch dann meldete sich plötzlich mein Körper und forderte vehement seine «Revision und Neuausrichtung». Binnen eines halben Jahres hatte ich drei Operationen, darunter eine Herzoperation, zu überstehen.
AZ: Wie war das für dich?
SS: So eine Operation am offenen Herzen geht schon sehr ans Lebendige. Auf der einen Seite war die Gesundung mit der ganzen Reha natürlich langwierig und beschwerlich. Andererseits muss ich auch sagen: Das war wohl der wunderbarste Frühling und Sommer meines Lebens. Ich musste überhaupt nichts und konnte einfach sein; ich hatte Zeit und konnte mit offenen Augen alles neu wahrnehmen. Ich erinnere mich noch gut an die erste grössere Wanderung nach der Operation, vom Brienzer Rothorn an den Lungernsee: Dankbar für all die kleinen Fortschritte, war ich schlicht überwältigt ob der Pracht des Bergfrühlings!
AZ: Dann hast du also diese Zeit des Nicht-Müssens, auch wenn du sie dir nicht ausgesucht hattest, als Geschenk erlebt?
SS: Ja, durchaus!
AZ: Und wie hast du dir diese Haltung im heutigen Alltag bewahren können?
SS: Nicht so sehr, wie ich möchte! Wie du ja weisst, engagiere ich mich in der freiwilligen Flüchtlingsarbeit. Der Verein «Burgdorf integriert» unterhält in unserer Kirchgemeinde einen offenen Treffpunkt für die Flüchtlinge aus dem nahe gelegenen Durchgangszentrum. Die meisten kommen aus Eritrea, Äthiopien, und natürlich auch aus Syrien, Irak, Afghanistan und Pakistan. Anfangs waren es meist junge Männer mit oft traumatischen Erfahrungen, die auf einen behördlichen Asylentscheid warten und sich irgendwie im Alltag zurechtfinden müssen. In den letzten Jahren kamen auch Frauen und Kinder, vereinzelt durch Familiennachzug, und jetzt natürlich junge Afghanen. Heute Morgen, zum Beispiel, waren wir im «Mama Afrika» – so nennen die Asylsuchenden diesen Treffpunkt im Kirchgemeindehaus liebevoll – sechs Schweizer, die 15 Flüchtlinge jeweils in Kleingruppen in Deutsch unterrichtet haben. Der Unterricht orientiert sich ganz konkret an ihren alltäglichen Problemen und schliesst gelegentlich auch den Umgang mit Behörden ein. Das kann bisweilen ganz schön aufwendig werden. Ich habe mal mit einem Asylsuchenden 30 Wohnungen besichtigt, da sie sonst ohne einheimische Begleitung kaum eine Chance gehabt hätten eine Wohnung zu finden. Aber mir gefällt diese Arbeit mit den Asylsuchenden, da sie in aller Regel sehr dankbar sind für jegliche Art von Austausch und Unterstützung, und natürlich auch, weil ich viele ihrer Heimatländer bereisen durfte und selbst aus einfachen Verhältnissen stamme.
AZ: Aber du engagierst dich ja noch über diese Deutschkurse hinaus.
SS: Ja, ich arbeite auch mit im HEKS-Garten, wo wir mit den Flüchtlingen Gemüse anbauen. Da geht es natürlich nicht nur um gärtnerisches Wissen und Hilfe zur Selbstversorgung, sondern auch um Begegnung und Austausch, um Integration und um ein wenig Auszeit – Paradiesgarten – im oft belastenden Alltag. Letztes Jahr war sogar Fernsehen SRF da und hat für die Reihe «Hinter den Hecken» einen halbstündigen Beitrag über unseren Integrationsgarten in Burgdorf gedreht.
Und dann wurde ich im «Mama Afrika» natürlich auch öfters nach einer Wohnung gefragt. So haben wir die beiden Wohnungen im ersten und zweiten Stock unseres Hauses, als sie dann frei wurden, an Asylsuchende vermietet. Im zweiten Stock wohnen drei junge Afghanen, die mit 16 Jahren in die Schweiz geflüchtet sind und bald ihre Ausbildung fertig machen. Da hilft Kathrin ab und zu bei behördlichen Fragen, ich eher bei schulischen Problemen. Im ersten Stock wohnt seit viereinhalb Jahren eine eritreische Familie. Milkana, die zweitälteste, hast du ja zu Beginn kennengelernt. Das heisst, eigentlich sind es nur die Mutter und die vier Kinder. Der Vater reiste erst später nach, aber aus Angst er werde in der Schweiz abgewiesen, versuchte er es in Luxemburg und hat dort Asyl bekommen. Da kämpfen wir schon geraume Zeit dafür, dass die beiden jüngeren Kinder, die in der Schweiz geboren sind, eine behördliche Anerkennung des Vaters und der Nationalität erhalten. Das ist sehr schwierig, weil offizielle, in der Schweiz anerkannte Papiere fehlen. Aber wir hoffen jetzt, dass das indirekt über die Anerkennung in Luxemburg möglich sein wird. Und wir hoffen auch, dass mittelfristig ebenfalls eine Zusammenführung der Familie möglich sein wird. Die Kinder sehen ihren Vater nur sporadisch, haben aber eine verhältnismässig gute Beziehung zu ihm. Dafür sind sie fast täglich bei uns und kommen mit ihren Schulaufgaben und allerlei anderen Dingen. Kathrin und ich nehmen da eine Grosselternfunktion wahr, und selbst ihre Mutter sagt, die älteren beiden seien eigentlich unsere Kinder. Die Eltern wollen und können wir nicht ersetzen. Aber für uns als kinderloses Paar ist diese Gemeinschaft ein grosses Glück, und für alle Beteiligten ein gegenseitiges Geben und Nehmen.
AZ: Das scheint mir auch so und freut mich sehr für euch. Aber da seid ihr ja mit allem ganz schön ausgelastet.
SS: Ja, das kann man wohl sagen. Und da musste ich auch Sorge tragen. Seit gut einem Jahr stehe ich morgens früh auf und gönne mir täglich meine «Inselzeit», in der ich ungestört meditieren, spazieren, Musik hören und schreiben kann. Da bin ich ganz bei mir, und das tut mir gut. Natürlich sitze ich auch mit der Meditationsgruppe im aki der Uni Bern, aber eigentlich äussert sich die spirituelle Praxis mehr und mehr im täglichen Tun und Sein. Ich stelle auch fest, dass ich mich mehr und mehr von Medien und Büchern distanziere. Das Sein in der Natur, das direkte, ungebrochene Schauen und Erleben wird mir immer wichtiger. Und das erlebe ich so auch ganz konkret mit den Kindern im Haus. Ich muss nicht viel machen, einfach ganz da sein.
Wenn ich so auf mein Leben und die bescheidenen Anfänge im Appenzell zurückblicke, so staune ich selber über den weiten Weg und die Fülle des Lebens, die ich erleben durfte.
AZ.: Lieber Sepp, ich danke dir für dieses ausführliche und offene Gespräch – und ganz besonders danke ich dir für dein Engagement.