von Regula Tanner und Margrit Wenk-Schlegel,
spirituelle Leitung der via integralis
Die erschütternden Ereignisse der letzten Monate zeigen, wie viel in unserem Menschheitsbewusstsein noch fehlt, bis sich die Illusion des Getrenntseins aufgelöst hat und wir uns als eins mit allem Leben erfahren.
Der Krieg in unserer Nähe kann unseren Blick auf dieses Ereignis einengen oder uns aufwecken, die vielen gewaltvollen Konflikte in der Welt wahrzunehmen. Krieg entsteht aus der Illusion der Trennung. Aus der Erfahrung der Einheit wollen wir dem Leben dienen – als Ausdruck unseres wahren Wesens. Damit die dadurch freiwerdenden Energien in eine lebensfördernde Richtung gelenkt werden, brauchen wir eine verbindliche Ethik.
Der Blick in die Welt ist somit ein Blick ins menschliche Bewusstsein und zeigt uns, wie Not-wendend es ist, zu erwachen und all unsere Kräfte auf Liebe, Frieden und Gerechtigkeit auszurichten.
Menschen auf dem Weg der Kontemplation via integralis rezitieren täglich den Text der Ausrichtung der Kräfte. Er entstand 2011 in der ersten Gruppe von Lehrenden als Antwort auf die Frage, auf welche ethische Grundlage wir unsere Meditationspraxis stellen. Da einzelne Textstellen nie ganz zur Ruhe kamen, bildete sich im September 2019 eine Arbeitsgruppe, um neue Formulierungen für diese Stellen zu finden. Nach tiefgreifender Auseinandersetzung mit den dahinter liegenden Themen und intensivem Ringen um stimmige Ausdrucksformen entstand nachfolgender Text, der im Februar 2022 in der Jahresversammlung der Lehrenden der via integralis als verbindlich angenommen wurde:
Ausrichtung der Kräfte
Eins mit DIR, Urgrund allen Lebens, diene ich der Menschheit, der Erde und dem Kosmos. |
Mit liebendem Herzen setze ich mich ein für Gerechtigkeit und Frieden in mir, in meinen Beziehungen und in der Welt und achte alle Dimensionen der Schöpfung. |
Zum Wohle leidender Wesen in Armut, Gewalt und Schmerz verkörpere ich Mitgefühl und traue der göttlichen Weisheit in mir. |
Achtsam lebe ich Ergänzung und partnerschaftliches Miteinander von Menschen aller Geschlechter, Religionen und Kulturen, Technik und Natur. |
Ich bin bereit, in Verantwortung für kommende Generationen den Weg des Erwachens zu gehen, Glück und Mühsal des Wachsens anzunehmen und wahrhaft liebend zu werden. |
Göttlicher Urgrund lass mich erfahren, dass Dein ICH BIN mein ICH BIN ist. |
Mit der Rezitation dieses Textes aktivieren wir das Bewusstsein der Einheit mit dem Urgrund allen Lebens. Unsere Wesensnatur ist das EINE, form- und gestaltlos, welches sich in jeder Form und Gestalt zeigt. Mit der Bekräftigung dieser Ureinheit beginnen wir die Rezitation und beten doch am Schluss um die Erfahrung dessen, was schon ist. Unsere Wesensnatur ist das EINE und gleichzeitig braucht es den Weg des Erwachens. Im grossen ICH BIN wird jedes Gefangensein im kleinen egozentrischen Ich überstiegen. Aus dieser erfahrenen Einheit setzen wir unsere Kräfte ein und gestalten das Leben und die Welt, damit das Reich Gottes erfahrbar werde für alle.
Von der konkreten Ausrichtung unserer Kräfte im Dienste des Lebens handeln die mittleren vier Abschnitte des Textes. Wir pflegen ganz bewusst die in uns angelegten Samen von Liebe, Gerechtigkeit, Frieden, Mitgefühl, Weisheit, Achtsamkeit und Achtung in allen Lebensbereichen:
Mit liebendem Herzen setzen wir uns für Gerechtigkeit und Frieden in uns selbst und nach aussen ein. Im Wissen um die Einheit allen Lebens erkennen wir, dass unser Bewusstsein, unser Tun und Lassen Auswirkungen hat auf unsere Beziehungen und auf die Weltsituation.
Mit dem Verb ‚achten‘ versprechen wir einen achtsamen, respektvollen, würdigenden, auch schützenden und wertschätzenden Umgang mit allem, was wir in den verschiedensten Dimensionen des Lebens vorfinden. Das entspricht unserer Praxis der Achtsamkeit. Damit drücken wir aus, dass wir nie die ganze Schöpfung wahrnehmen können: Wir sehen nicht, was unter der Erde alles lebt, wir sehen die Luft nur sehr bedingt, das Leben im Meer ebenso wenig, und wir nehmen die unsichtbare feinstoffliche Schöpfung nur beschränkt und individuell unterschiedlich deutlich wahr. Alle Dimensionen wollen wir achten – die sinnlich wahrnehmbare, sicht- und greifbare Welt wie auch die unsichtbare Welt. Das macht weit, öffnet den Horizont, lässt mehr als Alles erahnen und lässt uns staunen. Wir sind Mitschöpfende im evolutiven Prozess und achten alle Ausformungen des Lebens, mit liebendem Herzen.
Der Weg in die Tiefe öffnet uns für die Verbundenheit mit allem Leben. Im dritten Abschnitt erklären wir uns bereit, dem Leiden nicht auszuweichen, sondern ihm mit Mitgefühl und Herzensweisheit zu begegnen. Die Bodhisattva-Haltung aus der buddhistischen Tradition und das Beispiel von Jesus inspirieren uns dabei.
«Achtsam lebe ich Ergänzung und partnerschaftliches Miteinander von Menschen aller Geschlechter», so rezitieren wir im vierten Abschnitt. Im ursprünglichen Text war explizit von der Partnerschaft zwischen Frauen und Männern die Rede, was immer wieder zu kritischen Rückmeldungen und Gefühlen des Ausgeschlossenseins führte. In den zwei Jahren unseres Ringens nach stimmigen Formulierungen fand gesellschaftlich ein starker Bewusstseinswandel in Bezug auf Geschlechtsidentität statt. Nur wenige Tage nach der Approbation des neuformulierten Ausrichtungstextes haben sich in Deutschland hundert Mitarbeiter*innen der katholischen Kirche zu ihrer sexuellen Ausrichtung geoutet. Ein Zeichen der Zeit also, dass wir in der Neufassung von partnerschaftlichem Miteinander aller Geschlechter sprechen und damit alle Menschen einschliessen.
Im Wissen um die Einheit allen Lebens gehen wir den Weg des Erwachens nicht ausschliesslich für uns selbst. Jeder Prozess der Weitung und Öffnung hat Auswirkungen auf das Menschheitsbewusstsein – heute und in der Zukunft.
Verbunden miteinander können wir den Weg mit Freude und Entschiedenheit gehen, mit einem Ja für die Herausforderungen und Schmerzen und in Offenheit und Dankbarkeit für das geschenkte Glück.