Shô Dô und Kontemplation: zwei Wege – ein Ziel
Shô Dô – Der Weg des Schreibens ist eng mit der Zen-Tradition verbunden. Beim Kalligraphieren geht es nicht um ein fertiges Produkt, sondern um den Geisteszustand, der beim Pinseln erreicht wird. Wie beim Zazen ist die Wirbelsäule aufgerichtet. Der Pinsel wird senkrecht gehalten, die Pinselführung ist locker, damit das dünne Reispapier beim Kalligraphieren nicht zerreisst.
Wenn ich kalligraphiere, bin ich in jeder Sekunde präsent. Gerät ein Strich zu gross, zu krumm, zu schräg, kann ich mit den folgenden Strichen wieder ein Gleichgewicht schaffen. Das macht die Lebendigkeit des Kalligraphierens mit dem Pinsel aus – die Zeichen sind nie gleich, aber immer im Gleichgewicht. Je länger ich übe, umso mehr kommen Pinsel und ich in Einklang.
Ein lebendiges Zeichen zu kalligraphieren ist das Resultat einer geübten Technik und einer kontemplativen Hingabe. Vergleiche ich es mit der Kontemplation ist jedes Zeichen ein neues Schlüsselwort, dem ich mich annähere. Jedes Zeichen ersitze, erschwitze und erschreibe ich mir. Die Reihenfolge der Striche muss völlig verinnerlicht sein, bis ich das Zeichen mit geschlossenen Augen in Hand und Kopf habe. Auch wenn eine Kalligraphie in wenigen Sekunden geschrieben ist, steckt unendlich viel Übung und Hingabe dahinter.
Anlässlich eines Kurses «Zen-Kalligraphie» im Zen-Buddhistischen Zentrum Johanneshof hatte ich die Gelegenheit, an einem Vortrag von Baker-Roshi, (Dharma-Nachfolger von Suzuki-Roshi) teilzunehmen. In diesem Vortrag hat er dazu aufgefordert, das uns Begegnende als Aktivität und nicht als statische Entität zu betrachten. Die Dinge der Welt erschöpfen sich nicht in einer banalen Vorhandenheit. Sie sind immer Aktivität. Baker-Roshi hat dabei die Kalligraphie als Beispiel genommen. Tatsächlich geht es beim Kalligraphieren nicht nur um das Darstellen eines chinesischen Symbolzeichen. Das Zeichen ist in seiner dynamischen Erscheinungsform mehr Verb als Objekt. Die Lebendigkeit der Kalligraphie ist erlebbar, auch ohne die Bedeutung des Zeichens zu kennen.
Die Brücke zur Kontemplation ist die Akzeptanz, mit dem, was ist, zu sitzen. Hier werde ich selbst zum Zeichen, jedes Mal mit anderen Voraussetzungen. Mal bin ich müde oder unruhig. Mal wach und überbordend. Mal fühle ich mich krumm und klein. Doch mit der Übung und meiner Präsenz findet alles seinen Platz und kommt ins Gleichgewicht.
Anna Schindler, Kalligraphie- und Kontemplationsschülerin