Ein spiritueller Impuls zur Geh-Meditation
Als mir das Sitzen schwerer fiel, weil meine Arbeit mehr an den Schreibtisch gerückt war, entdeckte ich die Geh-Meditation als eigenständige Meditationsweise. Ihre Kurzform findet sich im Kinhin, dem achtsamen Gehen zwischen den Einheiten des Zazen. Erfahrungen von mehr oder weniger meditativem Gehen bei Wallfahrten und Prozessionen sind mir aus meiner Kindheit vertraut. Bei Pilgertagen und Wanderexerzitien lasse ich sie heute miteinfließen. Für mich ist die Geh-Meditation, in der wir bis zu einer Stunde lang achtsam den immer gleichen Weg gehen, eine liebgewonnene Ergänzung zur Meditation im Sitzen geworden. Ich bin dankbar, dass ich in der via integralis eine Weite erlebe, welche diese Form zulässt.
Was heißt „Gehen“?
Das Gehen ist eine der frühen persönlichen Errungenschaften im Leben des Menschen, ähnlich dem Sitzen. Unermüdlich probt ein Kind den „Auf-Stand“ im Wechselspiel von Scheitern und Gelingen, von Gehalten-Sein und Selbststand. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie es sich damals anfühlte, „auf die Beine zu kommen“. Aber es hat sich meinem Körper eingeprägt. Es muss ein tiefes Wissen sein. Ich brauche nicht darüber nachdenken, wie Aufstehen und Gehen geht. Mein Körper führt mich. Er trägt diesen Geist des immer wieder neuen Anfangens in jeder Zelle. Es ist ein Geist, der um mehr Möglichkeiten weiß als mein Verstand und mein Wille – nicht nur beim Gehen.
Mit den Jahren werde ich zunehmend dankbar für die Erfahrung der ersten Schritte in meiner Kindheit. So lade ich auch bei Wanderexerzitien dazu ein, am Abend den Füßen wie in einem Ritual ein „Danke“ einzumassieren.
Geh-Meditation: „…sich morgens früh auf den Weg machen, als wäre noch nie ein Mensch auch nur einen Schritt gegangen“[1]
Das Gehen(lernen) erweitert meinen Horizont in zweifacher Hinsicht: Das Blickfeld der Augen wird weiter, wenn ich aufstehe. Die Füße bringen mich mit allem, was zu mir gehört, in Bewegung. Ob auf einem kurzen Wegstück oder über weite Etappen – der Weg liegt mir zu Füßen. Ihn gehen, ist Einladung oder Aufgabe an mich.
Wenn ich heute Geh-Meditationen anleite, dann sind solche Gedanken damit verbunden. In der Hinführung zur Geh-Meditation fragen wir uns: Wie bin ich mit meinen Füßen verbunden? Benutze ich sie im Alltag oft nur wie eine Maschine, um morgens aufzustehen und lasse sie ohne Wertschätzung stundenlang in untypischen Posen verharren oder unermüdlich funktionieren? Sehe ich in Anzeichen von Schmerzen und Verschleiß eine Einladung zur Liebkosung meiner Füße oder einen „Qualitätsverlust“?
„Wann wird‘s mal wieder richtig Winter …?“[2] – so rufen in Analogie zu einem Sommer-Hit unzählige Gelenke. Sehnsüchtig eilen sie an Blumen und Bäumen vorbei (vielleicht auch nur in ihren Träumen), die alljährlich ihr buntes Gewand ablegen, um über Monate des Ruhens hinweg Kraft zu sammeln für Schönheit und Ernte im nächsten Jahr.
Eins werden mit der Bewegung
In den kleinen Schritten der Geh-Meditation verlangsamen wir unser gewohntes Tempo und bleiben zugleich in Bewegung. Leben ist Bewegung. Wir üben uns ein, in Bewegung zu bleiben und wach dabei zu sein. Welche Veränderung nehme ich in der zweiten, in der dritten Runde wahr?
In der Geh-Meditation im Freien werden unsere Sinne vielfältig von Bildern genährt, ohne dass wir an ihnen haften bleiben. Das aufbrechende Morgenlicht über den Bergen, Tautropfen an vertrockneten Gräsern, eine Schnecke, die den Weg kreuzt, Kräuter, die zwischen Steinen wachsen – Werden und Vergehen, die Grund-Bewegung des Lebens, begegnet uns bei jedem Schritt. Sie führt uns zu der in uns wohnenden Sehnsucht nach Sehen und Gesehen werden. Nach „Ich bin“ und zugleich nach einem Verbundensein über uns hinaus – der Wechselbewegung zwischen Innen und Außen.
Das Setzen meiner Schritte
Der Atem leitet unsere Geh-Meditation wie das Sitzen in Stille. Ein ruhiger Atem lässt meine Schritte sanft und entschieden sein.
„Gib Gelassenheit deinen Schritten, Glück und Frieden“ – gerne beginne ich mit diesen Worten von Thich Nhat Hanh die Geh-Meditation. Die darauf ertönende Klangschale lädt ein, das eigene Gehen aufmerksam wahrzunehmen. Jeder Schritt ist eine Erfahrung von Widerstand. Das Auftreten ermöglicht, einen aufrechten Gang zu finden. In jedem Schritt spiegelt sich zugleich mein Verhältnis zu unserer einen Mutter Erde wider und so zu allen Wesen, ob ich sie als Fremde und Feinde oder als Schwestern und Brüder erachte.
Das Üben der Geh-Meditation hat mich dazu geführt, in meinem Alltag als Klinikseelsorgerin meine Schritte auf dem Weg zu einer Patientin, einem Patienten zu verlangsamen. Dies hat mich offen werden lassen für Begegnungen, die sich auf den wenigen Metern zum nächsten Zimmer ereignen konnten. So führt mich die Geh-Meditation im Alltag immer wieder hin zu Erfahrungen des Loslassens und des Überraschtwerdens und lockt mich, der Unverfügbarkeit mutig Raum zu geben.
Dorothea Welle, Kontemplationslehrerin via integralis auf dem Weg
[1] Verse aus meinem Gedicht: „Bleib dem Leben auf der Spur“. Den vollständigen Text gebe ich auf Anfrage gerne weiter.
[2] Originaltext: Wann wird’s mal wieder richtig Sommer. Text: Steve Goodman, Thomas Woitkewitsch. Interpreter: Rudi Carrell