Spiritueller Impuls
Im Frühjahr 2022 entschloss ich mich, mein Amt als Gründungspräsident des Vereines via integralis abzugeben. Nach über sechs Jahren intensiver Arbeit für den Aufbau dieser Gemeinschaft von Frauen und Männern, deren tiefes Anliegen die Vermittlung der Kontemplation ist, fand ich es an der Zeit, neuen Gesichtern den Platz freizumachen. Ich machte meine Absicht innerhalb der Gesamtleitung bekannt. Worauf mich Margrit Wenk-Schlegel fragte, ihre Nachfolge in der Spirituellen Leitung anzutreten. Bereits bei ihrer Berufung in die Spirituelle Leitung 2020 hatte sie angekündigt, nur für einen befristeten Zeitraum in dieser Rolle tätig zu sein. Ihre Anfrage löste bei mir einen intensiven Prozess aus. Diesen möchte ich für den folgenden Impuls reflektieren.
Vielleicht ging es Ihnen auch schon mal so, dass Sie vor einer wichtigen Entscheidung standen und sich zunächst mit einer Vielzahl von Fragen konfrontiert sahen. In meinem Fall stieg in mir, nach der Anfrage durch Margrit, die dualistische Frage hoch: ‘Bin ich christlich genug‘ für dieses Amt? So wie die Frage formuliert ist, verlangt sie ein Ja oder ein Nein, unterscheidet richtig und falsch. Ich lade Sie ein, mit mir dieser exemplarischen Frage nachzugehen und gleichzeitig etwas über meine Biografie zu erfahren.
Als ich vor über dreissig Jahren bei Niklaus Brantschen Roshi begann, den Zen-Weg ernsthaft zu studieren, hätte ich mich am ehesten als Buddhisten bezeichnet, obwohl ich formal bis heute der evangelisch-reformierten Kirche angehöre. Durch das Vorbild meines Lehrers begann ich mich wieder für die christliche Erfahrungsweise zu öffnen und bekam viel Inspiration in seinen einfach gehaltenen Eucharistiefeiern. Einem damaligen Impuls folgend, in Gemeinschaft zu leben, trat ich mit meiner Familie der christlichen Kreuz Jesu Gemeinschaft bei, welche Mitte der 90er-Jahre Teil der charismatischen Erneuerung der katholischen Kirche war. Die damaligen Erfahrungen sind für mich bis heute sehr wertvoll. Den Zen-Weg bin ich über die ganze Zeit intensiv weitergegangen. Später vertiefte ich durch die Teilnahme am via integralis Lehrgang die Auseinandersetzung mit der christlichen Mystik.
Trotz dieser Vorgeschichte beschäftigte mich die Ausgangsfrage weiter: ‘Bin ich christlich genug?’ Ich übte viel Zazen, das Sitzen in Konzentration, welches wir in der christlichen Mystik als Kontemplation bezeichnen. Ich zog mich zudem zu einem Retreat bei einem Freund zurück, an dessen Ende sich die Antwort so klar zeigte, dass ich aus einer inneren Gelöstheit heraus über diese kleinliche Frage lachen konnte. Noch gleichentags teilte ich in aller Freiheit Margrit Wenk–Schlegel mein Einverständnis mit, mich als ihren Nachfolger zu berufen.
Es liegt in unserer Natur, dass wir zuweilen, trotz jahrzehntelanger Kontemplation, bei der es um die Realisation geht, dass wir zu allem, das ist, vertrauensvoll Ja sagen können, immer wieder in dualistische richtig / falsch Unterscheidungen verfallen. Am Beispiel eines Koan aus der Sammlung Mumonkan sind Sie eingeladen, dies aus der Zen-Perspektive zu betrachten. Koan-Sammlungen geben in der Zen-Tradition meist Situationen wieder, in denen wir auf Menschen treffen, die mit ihren existentiellen Fragen zur Natur ihres Seins, ihren Meistern begegnen (1). Wenngleich Koan hierzulande eher den Ruf haben, ‘rational nicht lösbare Rätsel’ zu sein, bedeutet Koan eigentlich ‘Öffentlicher Aushang´. Die Koan weisen auf die eine Wirklichkeit hin, in der es im Zen geht. Wenn wir diese Wirklichkeit erfahren, fällt das Paradox.
Nach dieser allgemeinen Hinführung zu den Koan, wende ich mich nun dem Wortlaut des Koan 40 zu: «Den Wasserkrug umstossen».
«Als Meister Isan sich noch unter Hyakujôs Führung schulte, hatte er das Amt des ‚Tenzo‘ inne. Hyakujô wollte einen Meister für das Kloster auf dem Berg Daii auswählen. Darum rief er den Mönchsältesten und seine anderen Schüler zu sich, forderte sie auf, ihre Einsicht zu demonstrieren, und sagte, dass der Beste ausgesandt werden sollte. Dann nahm er einen Wasserkrug, stellte ihn auf den Boden und sagte: „Ihr dürft ihn nicht einen Wasserkrug heissen! Wie wollt ihr ihn also benennen?“ Der Mönchsälteste sagte: „Er kann doch nicht eine Holzsandale genannt werden.“ Hyakujô fragte den Isan. Dieser stiess den Krug sofort mit dem Fuss um und ging davon. Hyakujô lachte und sagte zum Mönchsältesten: „Isan hat dem Mönch vom ersten Sitz den Rang abgelaufen.“ Und er bestellte Isan zum Gründer des neuen Klosters.»
Mumonkan, Die torlose Schranke (2)
Die Schilderung führt uns zum Beginn des 9. Jahrhunderts zurück. Isan, der Protagonist unserer Geschichte, ist zu der Zeit Hyakujô’s Schüler und als Chefkoch (Tenzo) für das leibliche Wohl der Mönche besorgt. Hyakujô tritt hier als Meister auf, der offensichtlich auf der Suche nach einem geeigneten Leiter für ein geplantes Kloster ist. Wie üblich gibt es ein Bewerbungsverfahren nach Zen-Kriterien: Wer präsentiert seine Einsicht in die letzte Wirklichkeit anhand einer Aufgabe am deutlichsten? Hier: Der inmitten der versammelten Schülerschaft platzierte Wasserkrug darf nicht mehr als solcher bezeichnet werden. “Aber wie denn sonst”, so fragt der Mönchsälteste, der als solcher zu den Favoriten für den Job gelten dürfte. Für ihn steht fest, von der Tradition kann nicht abgewichen und der Krug plötzlich ‚Holzsandale‘ genannt werden.
Der Wasserkrug steht für unser dualistisches Anhaften. Die Fragen wie: ‘Bin ich christlich genug?’ ‘Bin ich ordentlich genug gekleidet?’ ‘Darf ich als Katholik in einen reformierten Gottesdienst?’ ‘Dürfen wir im Meditationsraum eine hölzerne Statue stehen haben, die den Buddha in der Zazen-Haltung darstellt und der uns so lediglich zeigt, wie man sitzend meditiert?’ Im Alltag mit seinen Konventionen wird von uns eine adäquate Antwort auf diese Fragen gefordert und damit zusammenhängend auch das soziale Miteinander realisiert. Erfahrung aus der Tiefe unseres Seins transzendiert diese Dualität. Damit werden wir frei, aus der unmittelbaren Einsicht ins Handeln zu kommen.
Diese Freiheit tritt zutage, nachdem Hyakujo nun den Isan an die Reihe nimmt. Dieser, ohne Zögern, stösst den Krug einfach um und geht von dannen. Worauf Hyakujo verkündet, dass Isan dem Mönchsältesten den Rang abgelaufen habe, da dieser spürte, worauf es Hyakujo ankam.
Nachdem ich den Klärungsprozess durchlaufen hatte, fühlte ich mich sehr mit Isan verbunden. Aus der Perspektive der letzten Wirklichkeit sind unsere Kategorisierungen schal. Dort gibt es nirgends einen Copyright-Stempel, auf dem steht, christlich©, Zen©, buddhistisch©, islamisch©, hinduistisch© usw. Solche Unterscheidungen kommen in der Regel immer erst nach gemachter Erfahrung. Letzten Endes sollten wir uns hinsichtlich der letzten Wirklichkeit, dem Göttlichen, nicht an solchen Begriffen messen. Wenn wir angehalten sind, uns kein Bild von Gott zu machen, geht es nicht nur um Götzenbilder, sondern auch darum, innere Bilder abzulegen. Dazu gehört, den Krug entschieden umzustossen, um im Bild unserer Geschichte zu bleiben.
Auf die Rolle bezogen, welche ich zusammen mit Regula Tanner in der Spirituellen Leitung mittlerweile ausübe, nehme ich mir vor, mich nicht nach vordergründigen Zugehörigkeiten zu orientieren. Mein Wunsch ist, Menschen auf die letzte Wirklichkeit hin zu begleiten, welche sich in der mystischen Erfahrung einstellt. Innerhalb unserer Kontemplationsschule möchte ich mich dafür einsetzen, die Breite der Erfahrungsmöglichkeiten offenzuhalten und die uns allen gemeinsame Tiefe des Seins zu erschliessen, soweit dies nur irgend möglich ist. Wobei sich dieses Sein, wie immer wir es benennen mögen, nicht endgültig erschliessen lässt. Deshalb sprechen wir ja vom Geheimnis des Glaubens.
Die seit dem 4. Jahrhundert fix formulierten Formeln suggerieren einen gegebenen Sachverhalt, der wohl als geteiltes Bekenntnis Gemeinsamkeit schafft. Jedoch wäre konkrete Nachfolge Jesu nicht, an den Ort zu kommen, wo “der Vater und ich eins sind” (Joh 10,30)? Und wie ist das mit dem Brot und dem Wein? Geprägt von den einfachen Eucharistiefeiern mit Pater Niklaus Brantschen fand ich, dass die Einheit von allem, welche mystisch erfahren werden kann, in diesen Feiern auf einzigartig schöne Weise zum Ausdruck kam. Vor kurzem nahm ich an einer Eucharistiefeier teil. Die Dankesfeier berührte mich bis zum Zeitpunkt, als der Zelebrant nach der Konsekration versehentlich den kleinen Wasserkrug umstiess und, sichtlich erleichtert darüber, dass er nicht den Wein verschüttet hatte, spontan ausrief: «Es ist nur Wasser!» Nun ist es aber so, dass es kein Nur-Wasser gibt. Es gibt Wasser. Und dieses Wasser ist, wie auch der Wein und das Brot, mein Leib. Und wenn ich in dieses Gewahrsein gelange, ist Einheit. Was müsste da durch das Trinken des Weines noch vergeben werden? Nach der Feier ging ich weg, mit den berühmten Zeilen aus Hakuin Zenji’s “Lied auf Zazen” im Bewusstsein: “Wie traurig, dass die Menschen das Nahe nicht sehen!”
Die Suche nach Antworten müssen wir selbst antreten. Wer keine Fragen hat, kommt nicht wirklich weiter. Jemand anderem eine Antwort auf eine Frage zu geben, die nie gestellt wurde, ist fruchtlos. Dennoch hoffe ich, dass die eine oder andere Frage bei Ihnen bleibt und Sie dranbleiben, bis diese geklärt sind.
Von Jürgen Lembke,
Jürgen Lembke wurde im Februar 2023 in die Spirituelle Leitung der via integralis berufen. Als Zen-Lehrer (Sensei) der Glassman-Lassalle Zen-Linie bietet er die meisten seiner Kurse im Lassalle-Haus oder im Rebberg Zendo in Wettingen an.
(1) Meisterinnen gibt es in den klassischen Koan-Sammlungen nur wenige. Es gibt die folgende neue Koan-Sammlung: Das verborgene Licht, 100 Geschichten erwachter Frauen aus 2500 Jahren, betrachtet von (Zen-)Frauen heute. Zusammengestellt von Florence Caplow und Susan Moon; 2016, Edition Steinrich; Darin werden ausschliesslich Situationen, in denen Frauen die Hauptrolle spielen, dargestellt.
(2) Mumonkan – Die torlose Schranke: Zen-Meister Mumons Koan-Sammlung, kommentiert von Yamada Koûn Roshi; 2011, Kösel Verlag