Welchen Sinn hat es, mich auf Stille und Atem einzulassen und sonst auf «Nichts»? Warum sitze ich? Diese Frage bewege ich immer mal wieder in meinem Herzen. Auch und vor allem dann, wenn sich mir das Leben urplötzlich und verhaltensoriginell querstellt.
So auch die Erfahrung einer Begegnung, die mich berührt und gedankenvoll zurückgelassen hat. Sie hat mir neues Bewusstsein geschenkt, meinen Horizont geweitet und mein Herz geöffnet.
Seit ein paar Wochen besuchen und begleiten wir – die Familie, Freund*innen, ich – Anna. Anna ist Wissenschaftlerin, mutige Kämpferin und Pionierin in ihrem Fach. Sie konnte sich stets auf ihren ausserordentlich guten Intellekt verlassen. Anna liebte Unabhängigkeit und Selbstständigkeit über alles. Nun leidet sie an Demenz. Ihre Welt zerbricht und fällt auseinander. Alles, was Anna in ihrem Leben wichtig war, zerbröselt. Jetzt begleiten sie Unsicherheit, grosse Angst, bodenlose Verzweiflung, tiefe Trauer. Jetzt ist ihr Leben nur noch enorm herausfordernd und schmerzlich anstrengend.
Wenn ich Anna besuche, sitzen wir manchmal still auf dem Sofa. Dann scheint sie mit ihren Gedanken weit weg zu sein, in ihrer eigenen Welt. In einem sehr klaren Moment – unverhofft – beginnt Anna zu reden: «Du hast schon früh gelernt, alles zu lernen, worauf es ankommt, damit man gut mit dieser entsetzlichen Situation, in der ich mich jetzt befinde, zurechtkommt.» Mit dieser Aussage überrascht sie mich und ich brauche etwas Zeit, ihr nachzuspüren.
Ich frage nach: «Wie meinst du das?» Und Anna antwortet: «Wenn man diese schlimme Krankheit hat, nützt alles Beten nichts. Ich habe Angst und keine Geduld, es ist schrecklich. Aber du hast Geduld, bist ruhig und gelassen und kannst lange einfach nichts tun, ohne verrückt zu werden. Du nimmst einfach alles so wie es kommt.»
Annas Stimme klingt verzweifelt und traurig. Eine Zeitlang ist es ganz still zwischen uns. Nach einer Weile meint Anna: «Du meditierst halt.»
Wieder lasse ich die Worte in mir nachklingen. Was löst das Gehörte in mir aus? Ich warte auf einen Impuls… Suche meinerseits nach Worten…. nach einer Antwort: «Ich übe mich im Sitzen in der Stille. Es ist mir schon wichtig, immer wieder ganz im Moment präsent zu sein. Manchmal hilft es mir, geduldig oder gelassen zu sein. Aber ich habe keine Garantie, ob es gelingt, wenn ich es denn brauche. Und: Ich kann nicht auf Vorrat üben. Ziemlich sicher zerbröseln auch meine Fähigkeiten, sollte ich an der gleichen Krankheit leiden wie du…»
Anna ist wieder in ihrer Welt und weit weg. Das Gesagte stimmt mich nachdenklich. Warum sitze ich? Um schwierige Schicksalsschläge besser zu ertragen, seelische Einbrüche besser zu verkraften, das tägliche Grauen besser zu bewältigen?
Sitze ich, weil…? Sitze ich, um zu…? Sitze ich, damit ich…?
Welchen Sinn hat es, mich auf Stille und Atem einzulassen?
Anna lehrt mich, dass sie nichts festhalten kann, so gerne sie auch möchte. Durch sie wird mir neu bewusst, worum es gehen könnte, wenn ich sitze: «Voller Erwartung nichts erwarten» und üben, einfach üben, üben… und nichts festhalten.
Ich übe Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Bewegungen wahrzunehmen und dann zu lassen. Ich übe, mich dem Leben, wie es sich zeigt – in aller Ver-rücktheit und Zärtlichkeit, in allem Schweren und Leichten, in allen dunklen und hellen Facetten – mit grösstmöglicher Offenheit, Absichtslosigkeit und Unvoreingenommenheit zu begegnen und mich darauf einzulassen. Ich übe mich, im hier und jetzt nichts zu erwarten.
Ich übe offen zu sein für das, was ist – jetzt. Das genügt.
Danke Anna!